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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Kinderschlafzimmer, deckte die Kinder noch einmal zu, zog Laken und Decken glatt an vier Kinderbetten. Im Flur blieb sie vor der großen Landkarte stehen, die, vor Alter gelb, mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt, fast aussieht wie eine Vergrößerung der Karte der ›Schatzinsel‹: ringsum Meer, dunkelbraun wie Mahagoni sind die Berge, hellbraun die Täler eingezeichnet, schwarz die Straßen und Wege, grün die kleinen kultivierten Flächen um die winzigen Dörfer herum, und überall sticht die blaue Zunge der See in Buchten weit in die Insel vor; kleine Kreuze: Kirchen, Kapellen, Friedhöfe; kleine Häfen, Leuchttürme, Klippen — langsam schiebt sich der Zeigefinger der Frau mit dem silbern lackierten Nagel die Straße entlang, auf der ihr Mann vor zwei Stunden davonfuhr: ein Dorf, zwei Meilen Moor, ein Dorf, drei Meilen Moor, eine Kirche — die junge Frau bekreuzigt sich, als führe sie wirklich an der Kirche vorüber — , fünf Meilen Moor, ein Dorf, zwei Meilen Moor, eine Kirche - ein Kreuzzeichen; die Tankstelle, Teddy O’Malleys Bar, Becketts Laden, drei Meilen Moor — langsam schiebt sich der silbern lackierte Fingernagel wie ein glitzerndes Automodell auf der Landkarte vor, bis er den Sund erreicht, wo die kräftig schwarze Linie der Landstraße über die Brücke zum Festland schwenkt, der Weg aber, den ihr Mann nehmen mußte, nur noch als dünner, schwarzer Strich hart an der Inselkante vorbeigeht, stellenweise mit der Kante zusammenfällt. Dunkelbraun ist hier die Karte, die Küstenlinie ausgezackt und unregelmäßig wie das Kardiogramm eines sehr unruhigen Herzens, und jemand hat mit Kugelschreiber in die blaue Meerfarbe geschrieben: 200 Fuß - 380 Fuß — 300 Fuß, und jede dieser Zahlen ist mit einem Pfeil versehen, der verdeutlicht, daß diese Angaben nicht der Meerestiefe gelten, sondern dem Gefälle der Küste, die an diesen Stellen mit dem Weg zusammenfällt. Immer wieder stockt der silbern lackierte Zeigefingernagel, denn die junge Frau kennt jeden Schritt dieses Weges: oft hat sie ihren Mann begleitet, wenn er Krankenbesuche machte in dem einzigen Haus, das dort an dem sechs Meilen langen Küstenstreifen liegt. Touristen genießen diese Fahrt an sonnigen Tagen mit leichtem Schauder, da sie auf einige Kilometer vom Auto aus senkrecht auf die weiß züngelnde See blicken; eine kleine Unachtsamkeit nur, und das Auto erleidet Schiffbruch an diesen Klippen dort unten, wo manches Schiff schon zerschellt ist. Naß ist der Weg, mit Geröll übersät, mit Schafdung bedeckt an den Stellen, wo sich die alten Trampelpfade der Schafe mit dem Weg kreuzen — plötzlich stockt der Zeigefingernagel: hier fällt der Weg in eine kleine Bucht hinein steil ab, steigt wieder an: die See brüllt in eine cañonartige Schlucht hinein; Millionen Jahre alt ist diese Wut, die sich schon tief unter den Felsen gefressen hat — wieder stockt der Zeigefinger: hier lag ein kleiner Friedhof für ungetaufte Kinder; ein einziges Grab ist noch zu sehen, mit Quarzbrocken eingefaßt: die anderen Gebeine hat die See abgeholt — über eine alte Brücke, die kein Geländer mehr hat, schiebt sich nun vorsichtig das Auto, dreht, und im Scheinwerferlicht sind die winkenden Arme wartender Frauen zu sehen: in dieser äußersten Ecke wohnt Aedan McNamara, dessen Frau diese Nacht ein Kind erwartet.
    Die junge Arztfrau fröstelt, schüttelt den Kopf, geht langsam ins Wohnzimmer zurück, häuft neuen Torf auf, stochert in der Glut, bis die Flammen hochlecken; die Frau greift zum Strickknäuel, wirft es in die Sofaecke zurück, steht auf, geht zum Spiegel, bleibt eine halbe Minute nachdenklich mit gesenktem Kopf stehen, wirft den Kopf plötzlich hoch und blickt sich ins Gesicht: ihr Kindergesicht wirkt mit dem scharfen Make-up noch kindlicher, fast wie das einer Puppe, aber die Puppe hat selbst vier Kinder. Dublin ist so weit — Grafton Street — O’Connell Bridge — die Kais; Kinos und Bälle — Abbey Theatre — werktags morgens um 11 Uhr die Messe in St. Theresa Church, zu der man pünktlich kommen muß, um noch Platz zu finden — seufzend geht die junge Frau zum Kamin zurück. Muß Aedan McNamaras Frau ausgerechnet immer nachts ihre Kinder kriegen und immer im September? Aber Aedan McNamara arbeitet von März bis Dezember in England, kommt um Weihnachten erst nach Hause, für drei Monate, um seinen Torf zu stechen, das Haus neu zu streichen, das Dach zu reparieren, heimlich an diesem zerklüfteten Küstenstreifen ein wenig auf

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