Irisches Tagebuch
Titelseite sind die privaten Anzeigen zu finden: Geburten, Todesfälle, Verlobungen, und eine besondere Spalte, die ›In Memoriam ‹ heißt: dort werden Jahrgedächtnisse, Sechswochenämter angekündigt, oder es wird nur an den Sterbetag erinnert: »Zur Erinnerung an die inniggeliebte Moira McDermott, die vor einem Jahr in Tipperary starb. Gütiger Jesus, hab Erbarmen mit ihrer Seele. Mögt auch Ihr, die Ihr heute an sie denkt, ein Gebet an Jesus richten .« Zwei Spalten, vierzigmal betet die junge Frau mit den silbern lackierten Fingernägeln »Gütiger Jesus, erbarme dich seiner erbarme dich ihrer« für die Joyces und McCarthys, die Molloys und Galaghers .
Dann kommen die Silberhochzeiten, die verlorenen Ringe, gefundenen Geldbörsen, amtliche Bekanntmachungen.
Sieben Nonnen, die nach Australien, sechs, die nach Nordamerika gehen, lächelten dem Pressefotografen zu. Siebenundzwanzig Neupriester lächelten dem Pressefotografen zu. Fünfzehn Bischöfe, die über die Probleme der Emigration berieten, taten dasselbe.
Auf der dritten Seite der tägliche Stier, der eine Serie preisgekrönter Zuchtbullen fortsetzt; dann kommen Malenkow , Bulganin und Serow — weitergeblättert; ein preisgekröntes Schaf, den Blumenkranz zwischen den Hörnern; ein junges Mädchen, das bei einem Gesangwettbewerb den ersten Preis erhielt, zeigte den Pressefotografen sein hübsches Gesicht und seine häßlichen Zähne. Dreißig Absolventinnen eines Internats trafen sich fünfzehn Jahre nach dem Examen: einige sind in die Breite gegangen, andere ragen schlank aus dem Gruppenbild heraus, sogar auf dem Zeitungsfoto ist das scharfe Make-up zu erkennen: Münder wie Tusche, Brauen wie zarte kräftige Pinselstriche. Vereint waren die dreißig bei der Messe, bei Tee und Kuchen, beim abendlichen Rosenkranz.
Die drei täglichen Comic-Fortsetzungen: › Rip Kirby ‹, › Hopalong Cassidy‹ und › The Heart of Juliet Jones‹. Hart ist das Herz der Juliet Jones.
Flüchtig, so nebenbei, während ihre Augen schon halb auf der Kinoreklame ruhen, liest die junge Frau eine Reportage über Westdeutschland ›Wie sie in Westdeutschland ihre religiöse Freiheit nutzen‹. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte — so liest die junge Frau — gibt es in Westdeutschland vollkommene Freiheit der Religionsausübung. Armes Deutschland, denkt die junge Frau und schließt ein »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« an.
Längst hat sie die Kinoreklame überflogen, schon ruht ihr Auge begierig auf der Spalte, die ›Wedding Bells‹ (Hochzeitsglocken) heißt: eine lange Spalte; da hat also Dermot O’Hara die Siobhan O’Shaugnessy geheiratet: Stand und Wohnort beider Elternpaare, des Brautführers, der Brautführerin, der Trauzeugen werden genauestens angegeben.
Seufzend, in der heimlichen Hoffnung, daß eine Stunde vergangen sein möge, blickt die junge Frau auf die Uhr: aber es ist erst eine halbe Stunde vergangen, und sie senkt ihr Gesicht wieder in die Zeitung. Reisen werden angezeigt: nach Rom, Lourdes, Lisieux , nach Paris in die Rue du Bac , zum Grab der Katharina Labouré ; und da kann man sich für wenige Schillinge in das Goldene Buch des Gebets eintragen lassen. Ein neues Missionshaus ist eröffnet worden: strahlend stellten die Gründer sich der Kamera. In einem Nest in Mayo, vierhundertfünfzig Einwohner, hat dank der Aktivität des örtlichen Festival-Komitees ein wirkliches Festival stattgefunden: Wettbewerbe gab es in Eselreiten, Sacklaufen, Weitsprung und im Langsamfahren für Fahrräder: grinsend hielt der Sieger im Langsamfahren für Fahrräder sein Jungengesicht dem Pressefotografen hin: er, ein zarter Lehrling der Lebensmittelbranche, wußte am besten die Bremsen zu bedienen.
Sturm ist draußen aufgekommen, das Gebrüll der Brandung tönt herauf, und die junge Frau legt die Zeitung aus der Hand, steht auf, tritt ans Fenster und blickt in die Bucht hinaus: schwarz wie uralte Tinte sind die Felsen, obwohl die Münze des Mondes klar und voll über der Bucht schwebt; auch in die See dringt dieses klare, kalte Licht nicht ein: es haftet nur auf ihrer Oberfläche, wie Wasser auf Glas haftet, gibt dem Strand eine sanfte Rostfarbe, liegt auf dem Moor wie Schimmel; das kleine Licht unten im Hafen schwankt, die schwarzen Boote schaukeln...
Sicher schadet es nicht, auch für Mary McNamara ein paar »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« zu beten: Schweißperlen stehen jetzt auf diesem blassen, stolzen Gesicht, das auf eine unbeschreibliche
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