Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
vom Borderline-Typus. Der impulsive Typus beschreibt die alten »reizbaren Psychopathen«.
In aller Munde ist aber seit einigen Jahren die »Borderline-Störung«. Das sind Patienten auf der »Borderline«, also auf der Grenzlinie zwischen Neurose und Psychose. Sie verlieren niemals völlig ihre Ich-Stabilität, werden also nie wirklich psychotisch. Aber dieses Ich ist doch zutiefst verunsichert. Borderline-Patienten leiden darunter, immer sehr intensive, aber höchst wechselhafte Beziehungen zu unterhalten. Sie werden von ihren eigenen Emotionen steil nach oben und tief nach unten gerissen und stehen unter dauernder Anspannung. Ihr Selbstwertgefühl ist mitunter am Boden. Immer wieder werden sie von Suizidimpulsen heimgesucht. Sie haben kaum ein Gefühl für sich selbst und fügen sich schmerzhafte Schnitte zu, um sich wenigstens irgendwie zu spüren und die unerträglichen Spannungen zu lösen. Der Umgang mit Borderline-Patienten ist anstrengend. Sie wirken nicht nur selbst in ihren Emotionen bisweilen wie gespalten, sie spalten auch ihre Umgebung.
Wenn ich höre, dass auf einer Station dicke Luft bei den Stationsmitarbeitern herrscht, dann frage ich mitunter, wie denn die Borderline-Patientin heißt... Solche Spaltungen vollziehen sich durchaus subtil. Da offenbart die bekanntermaßen schwierige Patientin der neuen Schwester auf der Station unter vier Augen, sie, die neue Schwester, sei der erste Mensch, dem sie sich total öffnen könne, sie habe so ein tiefes Verständnis für
sie, könne zuhören, und was sie dann sage, das helfe ihr, der Patientin, ungeheuer weiter. Mit den anderen Pflegekräften auf der Station sei es ja nicht weit her, die könnten das alles nicht so gut... Die neue Schwester wird sich dann vielleicht sagen, dass sie zwar immer schon gewusst habe, dass sie gut sei, aber so gut habe das eigentlich noch niemand verstanden und formuliert, und die Kollegen, ja wirklich, die seien nicht immer das Gelbe vom Ei... Beschwingt fährt die Schwester nach Hause, nachdem sie einigen ohnehin schon genervten Kollegen noch einige, wie sie findet, lehrreiche Hinweise gegeben hat, wie man besser mit der anstrengenden Patientin umgehen könne. Sie macht sich damit nicht gerade beliebt bei den Kollegen, die vor sich hinbrummen, sie wüssten schon selbst, was sie zu tun hätten, sie solle sich mal nicht einmischen. Am nächsten Morgen kommt sie wieder und als sie die Patientin trifft, lässt die sie merkwürdigerweise eiskalt abblitzen. Als sie nachfragt, bricht es aus der Patientin heraus: »So etwas wie Sie habe ich wirklich noch nie erlebt! Da rede ich mit Ihnen ganz vertraulich, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als dann in bestem Einvernehmen ellenlang mit Ihren Kollegen zu reden, mich haben Sie gar nicht mehr beachtet. Sie haben mich in meiner Not völlig allein gelassen. Mit Ihnen rede ich kein Wort mehr...« Da schwebte man doch gestern noch auf Wolke sieben, da hielt man sich für die Größte und jetzt auf einmal das! Solche Schwankungen sind bei Borderline-Störungen normal. Sie sind, das muss man sich stets vor Augen halten, vor allem für die Patienten selbst sehr anstrengend, für die Umgebung aber auch.
Die Amerikanerin Marsha Linehan hat für diese Störung das wohl derzeit anerkannteste Therapieprogramm entwickelt mit dem komplizierten Namen »dialektisch-behaviorale Therapie« (DBT). Dieses verhaltenstherapeutisch orientierte Programm versucht, den Patienten für Alltagssituationen mehr Sicherheit mit sich und den anderen Menschen zu vermitteln. Dennoch sind die Behandlungen stets langwierig und schwierig. Borderline-Störungen betreffen weit überwiegend Frauen und haben in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Während ich am Beginn meiner Zeit als Assistenzarzt vielleicht zwei derartige
Patienten im Jahr sah, nehmen wir heute bisweilen zwei solche Patienten pro Woche auf. Warum dieses ausgeprägte Störungsbild so stark zunimmt, weiß man nicht genau. Natürlich gibt es da unterschiedliche Theorien. Die Psychoanalyse zum Beispiel zählt die Borderline-Störung zu den so genannten frühen Störungen, die in der frühesten Phase der kindlichen Entwicklung ausgelöst werden, weil das Kind sich als Ganzes nicht angenommen fühlt. Das führe zu der existenziellen Verunsicherung, die sich bei der Borderline-Störung darstellt.
Übrigens ist nach psychoanalytischer Theorie der krankhafte Narzissmus ebenfalls eine frühe Störung. Auch diese Menschen fühlen sich im
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