Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Kern ihrer Person nicht wirklich angenommen. Sie sind hochgradig kränkbar und interessieren sich eigentlich nur für sich selbst. Beinahe süchtig suchen sie ihr ganzes Leben lang nach Liebe und Zuwendung, ohne dass die viele Liebe und Zuwendung, die sie sich erzwingen, jemals reicht. Manche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die im gleißenden Scheinwerferlicht mit zur Maske erstarrtem Dauerlächeln gierig nach Beifall lechzt, leidet insgeheim an dieser tragischen Störung. Doch gilt dieses verschwiegene Leiden im Land der Promis schon fast als normal.
Am Ende dieses Kapitels sei aber noch einmal daran erinnert, dass alle Menschen im Zweifel als gesund zu gelten haben, auch Sie und ich. Nicht jeder, der etwas unausgeglichen und impulsiv ist, hat gleich eine Borderline-Störung, nicht jeder, der sich hinreißend auf einer Bühne präsentiert, ist gleich »hysterisch« oder »histrionisch«, nicht jeder, der sorgfältig ein Archiv leitet, ist gleich zwanghaft »anankastisch«. Doch wir wissen eben auch, dass es bei all diesen farbigen Eigenschaften von Menschen schrille Übertreibungen gibt, so schrill, dass es wehtut, dass der Mensch selbst oder seine Umgebung darunter leidet. Und erst wenn wirkliches Leiden auftritt, dann ist Therapie gefragt und infolgedessen muss man diagnostizieren. Wer aber ohne solche Anlässe herumdiagnostiziert und gleich alle anormalen, alle außergewöhnlichen, alle auffälligen Menschen mit Hilfe von Diagnosen in die Uniformen einer political correcten
Normalgesellschaft zurückprügeln wollte, der betriebe das zynische Ende der Menschheit, wie es Friedrich Nietzsche vorschwebte:
»Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht... Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ›Wir haben das Glück erfunden‹ - sagen die letzten Menschen und blinzeln.«
Der endgültige Sieg dieser blinzelnden, aber massenhaft auftretenden Normalen über all die liebenswürdigen farbigen Originale wäre der Triumph öder Spießigkeit, die Diktatur political correcten Denkens und political correcten Handelns, der Untergang des einmaligen Menschen im Rauschen grauer Mittelmäßigkeit. Es sieht nicht so aus, als sei diese Gefahr allzu gering.
Das Ende vom Lied
Damit sind wir am Ende der Expedition durch dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten angelangt, durch das Land all der liebenswürdigen, merkwürdigen, sonderbaren, fantasievollen und farbigen Gestalten, die unsere psychiatrischen Abteilungen und Krankenhäuser bevölkern und denen Sie gestern im Bus oder in der Bahn gegenübergesessen haben, ohne davon etwas zu merken. Sie sind ja in den allermeisten Fällen nur in ganz kurzen Phasen ihres Lebens krank - und übrigens sie, das sind eigentlich nicht »sie«, sondern das sind im Grunde »wir« alle, denn jedem von uns kann am Anfang, auf der Höhe oder erst am Ende unseres Lebens eine psychische Störung zustoßen. Es wird also höchste Zeit, dass alle sich interessiert, respektvoll und aufgeschlossen mit den Menschen beschäftigen, die ein Leben lang oder nur zeitweilig an den Grenzen dessen leben, was wir normal zu nennen gewohnt sind, oder sogar weit darüber hinaus.
Die Psychoanalyse lehrt, dass Menschen schwer gestört sind, wenn sie Teile ihrer Lebensgeschichte oder ihrer eigenen vielgestaltigen psychischen Existenz von sich abspalten, als seien die ganz fremd und gehörten nicht zu ihnen. Genauso schlecht ist es um eine menschliche Gesellschaft bestellt, die das Verrückte in ihr bloß ausstößt, im besten Fall gegen Geld in eigenen abgeschlossenen Bereichen professionell versorgen lässt und sich selbst ein gräuliches, starres, intolerantes Selbstbild von Normalität zulegt, das doch bloß Fassade ist. Eine auf diese Weise selbstunsichere Gesellschaft wäre nicht souverän und gelassen, sondern bei jedem Kratzen an dieser Fassade bereits zutiefst beunruhigt, latent aggressiv. Damit wäre sie auf dem besten Weg zur Diktatur der Normalität, die die eigene Unsicherheit mit schlichten Parolen überspielt und alles Abweichende rücksichtslos bekämpft. »Normal ist leichter Schwachsinn«, dieser eigentlich nur mit Bezug auf die menschliche Intelligenz geprägte berühmte Satz eines Psychiaters zu Beginn des wahnsinnig gewordenen 20. Jahrhunderts irrlichtert heute
voll schillernder
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