Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
zustoßen. Es gibt therapeutische Schulen, die sich bemühen, die symbolische Bedeutung dieser Störungen zu verstehen, eine psychisch bedingte »Blindheit« bei intakten Augen, wenn Menschen offensichtlich irgendetwas nicht mehr sehen wollen, eine psychisch bedingte Gangstörung bei intakten Beinen, wenn Menschen sich weigern, einen bestimmten Schritt in ihrem Leben zu tun, eine psychisch bedingte Gedächtnisstörung, wenn solche Menschen sich an ein beschämendes Ereignis nicht mehr erinnern wollen oder können. Hier wird also eine psychische Störung unbewusst vom Patienten symbolisch sichtbar gemacht.
Bei der so genannten Fugue ist der Patient nicht gelähmt, sondern ganz im Gegenteil: Er läuft plötzlich weg, aber nicht einfach so, sondern er verschwindet für Tage und Wochen aus seinem Leben. Die Angehörigen wissen nicht, wo er ist, und er selbst findet sich dann nach Tagen oder Wochen irgendwo wieder, manchmal Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt, und kann sich gar nicht oder nur sehr vage an seine Irrfahrt erinnern. Solche Fälle erscheinen dann nicht selten in den Gazetten, genauso wie psychisch bedingter Gedächtnisverlust bei Patienten, die plötzlich alles, selbst den eigenen Namen, vergessen haben.
Es gibt auch psychisch bedingte Krampfanfälle. Die wirken oft viel dramatischer als »echte« epileptische Anfälle. Nimmt man solche Anfälle mit der Kamera auf, so kann man in der Zeitlupe sehen, wie sich die Patienten noch kurz vor dem Hinstürzen schnell abstützen, um Verletzungen zu vermeiden. Auch hier darf man nicht schlicht absichtliche Täuschung unterstellen, denn auch solche Abläufe sind bei diesen Patienten, wie bei allen Patienten mit dissoziativen Störungen, der besonnenen abgewogenen Entscheidung des Patienten entzogen. Besonders skurril ist das so genannte Ganser-Syndrom, bei dem der Patient »verrückt spielt«. Er antwortet betont verrückt knapp an den gestellten Fragen vorbei.
Die spektakulärste Diagnose ist dann wohl die »multiple Persönlichkeit«. Hier stellt der Patient zwei oder mehrere Persönlichkeiten dar, die wechselseitig nichts voneinander »wissen«, oft eine eigene Stimmlage, ein eigenes Gedächtnis, kurz gesagt eine eigene Identität haben. Die Patienten können damit erhebliche Aufmerksamkeit erregen und die Therapeuten so sehr faszinieren und fesseln, dass insgesamt ziemlich komplizierte Konstellationen entstehen. Aber auch die Patienten selbst kommen aus dem Drama kaum noch heraus. Bei all diesen Störungen stellt sich die Frage nach der Freiheit des Patienten seiner Symptomatik gegenüber besonders dringlich. Der Ärger über das inszeniert Wirkende dieser Störungen hält sich beim Therapeuten nicht selten die Waage mit dem Bewusstsein, dass die Patienten letztlich selber keinen Ausweg mehr finden und oft sehr schwer unter ihrer Symptomatik leiden. Gewiss ist bei all dem das Vermeiden allzu großer Aufmerksamkeit auf die Symptomatik und zugleich die intensive und bemühte Suche nach nützlicheren Bewältigungsstrategien und nach angemesseneren Ausdrucksformen für Not und Sorge hilfreich.
4. Extreme Menschen und der letzte Mensch - Wie die Normalen »das Glück« erfanden
Solche Phänomene tauchen nicht selten bei Menschen auf, die eher extrovertiert sind, die also eher dazu neigen, ihr Innerstes nach außen zu wenden. Hysterisch nannte man früher einen solchen Charakterzug. Doch einerseits ist dieses Wort von einer ganz bestimmten Therapieschule, nämlich der Psychoanalyse, geprägt. Andererseits ist es inzwischen zum Schimpfwort abgesunken, so dass man für solche Persönlichkeitsauffälligkeiten mittlerweile das Wort »histrionisch« verwendet, das nun ungefähr das Gleiche bedeutet. Da haben wir es wieder, das Elend der Psychiatrie. Immer aufs Neue missbrauchen die Normalen Diagnosen, also Worte, die ausschließlich zur Hilfe für Patienten gedacht sind, zur Diskriminierung von Menschen.
Das gilt auch vom Wort »Psychopath«. Ursprünglich bezeichnete es Menschen, unter deren Persönlichkeitseigenart sie selbst oder andere litten. Das können sehr anstrengende Zeitgenossen sein, die gerade in großen Krisensituationen ihren Auftritt haben. »In den kühlen Zeiten begutachten wir sie, in den heißen - beherrschen sie uns«, hat ein berühmter deutscher Psychiater über Psychopathen einmal gesagt. Und so war es dann auch. Denn die klassische Psychopathielehre beschrieb nur eine Charakterabnormität, ohne wirkliche
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