Isegrim
langweilt.
Zugegeben: AuÃerhalb der Schulzeiten ist es umständlich, von Altenwinkel in die Zivilisation zu gelangen. Der Linienbus fährt nur von montags bis freitags ins rund zehn Kilometer entfernte Arnstadt. Nach Erfurt, in die nächste GroÃstadt, sind es dreiÃig Kilometer. Und am Wochenende ins Kino oder auf ein Konzert zu gehen, ist ein Akt. Vor allem, wenn man ein sechzehnjähriges Mädchen ist und eine Mutter hat, die vor lauter Angst, dass etwas passieren könnte, kaum noch das Haus verlässt.
Wir Dorfkinder müssen unsere Eltern anbetteln, dass sie uns kilometerweit herumkutschieren und nach Mitternacht noch von sonst woher abholen. Toll finden die das natürlich nicht und oftmals heiÃt es: »Nö, heute nicht.«
Trotzdem funktioniert es irgendwie. Letztendlich findet sich immer ein Elterntaxi, das uns in die Stadt oder zurück ins Dorf bringt. Im Sommer kann man Fahrrad oder Moped fahren und ein paar der älteren Dorfjungs sind im Besitz von Führerschein und Auto.
Die Türen des Schulbusses öffnen sich vor dem »Jägerhof« und alle steigen aus. Altenwinkel ist Endstation.
Das Wirtshaus, ein einstöckiger Fachwerkbau aus roten Ziegeln und grün gestrichenen Balken und Fensterläden, ist mit seinen bunt bepflanzten Blumenkästen vor den Fenstern ein richtiges Schmuckstück und seit Generationen in den Händen von Familie Schlotter. Allerdings verirren sich nur selten ein paar Vogelbeobachter oder Fahrradfahrer nach Altenwinkel, sodass im Schankraum immer dieselben Gestalten sitzen.
Einer Eingebung folgend beschlieÃe ich, auf dem Heimweg kurz bei Tante Lotta vorbeizuschauen, genauso, wie ich früher nach der Schule oft bei Uroma Hermine eingekehrt bin.
Seit ihrer Rückkehr nach Altenwinkel betreibt meine Tante in ihrem Elternhaus eine eigene Töpferwerkstatt. Lotta ist achtunddreiÃig, drei Jahre älter als Mama. Und das genaue Gegenteil von ihr. Beide Schwestern sind klein und schlank, aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Es ist kaum zu glauben, dass zwei Menschen mit den gleichen Genen so verschieden sein können.
Ich verabschiede mich von Saskia, Max und den anderen und trotte hinter den Färber-Zwillingen her, deren Eltern am Ortsausgang Richtung Badesee eine kleine Gärtnerei betreiben. Kurz vor der Abzweigung auf die DorfstraÃe kommt uns Frau Grimmer in ihrem elektrischen Rollstuhl entgegen, in dem sie seit ihrem Sturz von der Kellertreppe sitzt. Elvira und Rudi Grimmer wohnen im letzten Haus gegenüber der Gärtnerei. Rudi ist Frührentner und kümmert sich seit ihrem Unfall aufopferungsvoll um seine Frau, die wie immer picobello angezogen und ordentlich frisiert ist.
Paulina und Elina kichern mit weggedrehten Gesichtern, als sie an der Frau im Rollstuhl vorbeilaufen.
»Guten Tag, Frau Grimmer«, grüÃe ich höflich, als ich mit ihr auf einer Höhe bin.
»Hü... Hü...«, Elvira Grimmer verzieht das Gesicht und schüttelt schlieÃlich unzufrieden den Kopf. Man könnte meinen, sie ist nicht ganz richtig im Oberstübchen und verwechselt ihren Rollstuhl mit einem Pferd. Aber Kai hat mir erzählt, dass Elvira Grimmers Sprachzentrum bei dem Schlaganfall, den sie vor ein paar Wochen erlitten hat, einen Hieb abbekam und dass das einzige Wort, das sie noch hervorbringen kann, das Wort »Hühnerkacke« ist.
Die Dorfkinder machen sich seitdem einen Spaà daraus, ihr mit diebischem Vergnügen hinterhältige Fragen zu stellen. Zum Beispiel, was es denn heute zum Mittagessen gab. »Hü... Hü... Hühnerkacke.« Arme Elvira.
Ich biege nach links in eine StraÃe aus buckeligem Kopfsteinpflaster ein. Zur Linken und zur Rechten der DorfstraÃe reihen sich alte Bauerngehöfte mit Scheunen und weitläufigen Obstgärten aneinander. Hinter den Zäunen auf der rechten Seite, parallel zur DorfstraÃe, verläuft der Gartenweg, dahinter liegt ein breiter Waldstreifen mit Verbindung zum Truppenübungsplatz.
Gleich das erste Haus in der Kurve ist das Elternhaus von Ma und Lotta, ein kleines Fachwerkhaus mit frischem orangerotem Putz, taubenblauen Balken und Fensterläden. Das Untergeschoss ist aus grauen Muschelkalksteinen gemauert und den Platz vor dem Haus hat Lotta pflastern lassen, sodass neben ihrem VW-Bus noch drei weitere Kundenautos parken können, was aber so gut wie nie vorkommt.
Den ehemaligen Schweinestall aus
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