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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Gruppe Artenschützer wegen des Truppenübungsplatzes zu treffen, und bestimmt ist er noch nicht zurück.
    Â»Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden mehr als die Wahrheit.« Lotta stellt augenzwinkernd einen Becher mit Kaffee vor mir auf den Tisch.
    Â»Sagt wer?«
    Â»James Joyce.«
    Lotta ist ungeheuer belesen, sie liebt die Sprüche kluger Leute.
    Â»Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge«, gibt sie gleich noch einen zum Besten. »Thomas Mann«, fügt sie hinzu, bevor ich fragen kann.
    Â»Aber die Wahrheit macht Ma entweder unglücklich oder traurig oder versetzt sie in Panik«, verteidige ich mich. Ich lüge ziemlich oft, weil ich nicht will, dass meine Mutter sich unnötig aufregt. Ich lüge, um frei zu sein.
    Ich beschmiere eine Scheibe Knäckebrot mit Bärlauch-Frischkäse und beiße hinein.
    Lotta seufzt. »Ja, ich weiß.«
    Meine Tante und ich haben das Problem bestimmt hundert Mal durchgekaut und von allen Seiten beleuchtet. Lotta behauptet, Ma sei bereits als Angsthase auf die Welt gekommen, aber niemandem wäre das aufgefallen, denn auch ihre Oma Hermine und ihre Mutter Lene waren sehr vorsichtige Menschen. Als meine Großeltern in der Türkei verunglückten, begann das Samenkorn Angst in meiner Mutter aufzugehen und zu wachsen. Sie wurde mit dem Verlust ihrer Eltern einfach nicht fertig. Und nachdem Sievers Alina entführt und ermordet hatte, wurde es richtig schlimm.
    Als Ma aus der Psychiatrie zurückkam, ging sie zu einem Seelenklempner in Arnstadt, doch schon nach der dritten oder vierten Sitzung brach sie die Therapie einfach ab und seitdem hält Lotta sich zurück mit ihrer schwesterlichen Fürsorge. »Deiner Mutter kann nicht geholfen werden, wenn sie sich nicht helfen lassen will. Der erste Schritt muss von ihr ausgehen, doch offensichtlich ist der Leidensdruck noch nicht groß genug.«
    Tante Lotta besucht uns leider nur selten, obwohl wir bloß ein paar Häuser entfernt am anderen Ende der Straße wohnen und Ma sich jedes Mal sehr freut, wenn ihre Schwester da ist.
    Â»Ma geht wieder in den Garten«, sage ich. »Gestern hat sie auf der Terrasse gesessen und an ihrem neuen Buch geschrieben.«
    Â»Das ist gut.« Lotta nickt lächelnd. »Vielleicht schafft sie es ja doch noch, ihre Angst zu überwinden.«
    Geräuschvoll kauend, vertilge ich mein Knäckebrot und esse noch ein zweites. Der Kaffee ist gut. Tante Lotta mahlt ihn jeden Tag frisch mit der alten Kaffeemühle von Oma Hermine.
    Â»Bist du nur so vorbeigekommen«, fragt sie unvermittelt, »oder gibt es einen Grund?«
    Ãœberrascht sehe ich sie an, merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. »Es gibt keinen Grund. Ich hatte Sehnsucht nach dir.« Was eine glatte Lüge ist.
    Lotta lacht. Wie jung und schön sie aussieht, wenn sie lacht, meine exotische Töpfertante, die immer ein offenes Ohr für mich hat. Wenn ich so alt bin wie sie, möchte ich auch so aussehen und so drauf sein.
    Â»Ist was mit Kai?«, hakt sie unbeeindruckt von meiner Antwort nach. »Habt ihr es endlich getan?«
    Lotta weiß, dass ich mir die Pille besorgt habe und Kai immer mit einem Kondom in der Hosentasche herumläuft. Für alle Fälle.
    Meine Ohren prickeln.
    Â»Es ist also passiert.« Lotta sieht mir lange in die Augen und stellt schließlich mit einem amüsierten Zug um die Mundwinkel fest: »Die Glocken haben nicht geläutet, die Erde hat nicht gebebt, der Mond hat seine Umlaufbahn nicht verlassen.«
    Die Lippen zusammengepresst, schüttele ich den Kopf. Kai und ich haben das Thema Sex wochenlang umkreist und dann ist es an einem Nachmittag in seinem Zimmer einfach passiert. Es hat nicht einmal sonderlich wehgetan, war aber nach weniger als einer Minute vorbei. Eine herbe Enttäuschung, jedenfalls für mich. Etwas fehlte. Doch das werde ich Lotta nicht erzählen. Sie ist schließlich meine Tante und nicht meine beste Freundin.
    Dieser Gedanke versetzt mir einen Stich. Ich habe keine beste Freundin, mit der ich über mein erstes Mal reden kann. Saskia … Saskia ist ein prima Kerl, aber bis jetzt habe ich es noch nicht fertiggebracht, ihr derart heikle Dinge zu erzählen. Plötzlich vermisse ich Alina wie verrückt.
    Lotta legt ihre Töpferhand auf meinen Arm. »Was auch immer nicht perfekt war, Jola, nimm es nicht so tragisch«, tröstet sie mich. »Beim

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