Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Sie rüttelte am Griff. Verschlossen. Natürlich war die Kabine verschlossen. Wieder war sie eine Gefangene, wieder in den goldenen Käfig der Welt ihres Vaters gesperrt. Smokey sprang um sie herum, aber sie war zu benommen vor Kummer, um auf ihn zu achten.
Sie trat zu der schmalen Luke, hielt sich am Rahmen fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach draußen zu schauen. Die grimmig kargen Felsrücken der Insel waren immer noch gut zu erkennen, was ihr verriet, dass sie nicht lange bewusstlos gewesen war. Sie konnte hören, wie in den Kessel eingeheizt wurde. Bald wären sie unterwegs.
„Nein“, flüsterte sie, aber das Zischen der Heizkessel übertönte ihre Stimme. Selbst wenn sie sie fortbrachten, würde sie einen Weg finden, wieder hierher zurückzukommen. Aber wozu? Tom war für sie verloren. Tot.
Sie fiel vor der Waschschüssel auf die Knie und übergab sich. Die ganze Wahrheit brach über sie herein. Der Verlust und die Trauer. Die Erinnerungen an Hass und Gewalt, deren Zeugin sie auf Isle Royale geworden war.
Sie wollte an diesen Ort denken und sich an das Glück erinnern, das ihr dort zuteilgeworden war, nicht an den Albtraum, der sich vor wenigen Stunden ereignet hatte. Aber ihr Vater hatte ihr alles genommen.
Doch sie begrüßte den Schmerz, gab sich ihm hin. Sie wollte sich erinnern, wollte fühlen. Denn das war es, was sie auf der Insel gelernt hatte. Im Leben ging es nicht darum, den richtigen Mann zu heiraten oder an der richtigen Adresse zu wohnen oder die richtigen Gesellschaftsanlässe zu besuchen. Vielmehr ging es darum, die Schönheit der Natur zu erkennen, die Herzlichkeit echter Freundschaft zu erfahren, den Schmerz und die Freude der Liebe. Das war es, was sie dort gefunden hatte. Und das war es auch, was sie verloren hatte.
Sie zog sich auf die Füße und kehrte zur Luke zurück, um die felsige Küstenlinie von Isle Royale zu betrachten und sich jeden einzelnen Augenblick mit Tom ins Gedächtnis zu rufen. Sein langes, nachdenkliches Schweigen, sein Lachen, seine Angewohnheit, ihr so aufmerksam zuzuhören, als wären ihre Worte die wichtigsten, die je gesprochen worden waren. Das unerwartet vorsichtige, sinnliche Streicheln seiner Hände, wenn er sie liebte. Die französischen Kosewörter, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, wenn sie nachts beieinanderlagen. Wie es manchmal den Anschein erweckt hatte, er wolle ihr irgendetwas sagen, nur um es sich dann doch anders zu überlegen.
Ihr Atem ging in heftigen Stößen, schlug sich an der Scheibe nieder. Wie sollte sie ohne ihn nur weiterleben können?
Mut. Sie war jetzt tapfer, wesentlich tapferer als das jammernde, weinerliche Häuflein Elend, als das sie an Bord der Suzette verschleppt worden war. Die Nacht des großen Feuers schien Jahre her zu sein. Tom Silver hatte sie so vieles gelehrt. Er hatte Asa verloren, aber er hatte sich gezwungen weiterzumachen, hatte die Erinnerung an den Jungen geehrt, indem er weitergelebt hatte. Nicht nur einfach überlebt, sondern er hatte sogar gelernt, wieder Freude zu empfinden, wieder zu lieben. Gleichgültig, was seine letzten Worte gewesen waren, sie wusste, er hatte sie geliebt, wie niemand jemals zuvor.
Sie musste die Geschenke ehren, die er ihr gegeben hatte. Sie musste weitermachen. Sie würde für Gerechtigkeit kämpfen, nicht nur für Tom, sondern für all die Inselbewohner, die durch das rücksichtslose Streben ihres Vaters nach mehr Reichtum in Not geraten waren. Sie wusste, sie musste vorsichtig und mit Bedacht vorgehen, aber eines Tages würde sie dafür sorgen, dass ihr Vater und seine Schergen ihre Strafe erhielten.
Aber nicht jetzt, da ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. Für den Moment war alles, was sie tun konnte, nicht verrückt zu werden vor Gram. Während sie so am Fenster stand und dem Mahlen und Stampfen der Maschinen lauschte, kurz bevor das Schiff sich in Bewegung setzte, hörte sie ein Geräusch vor der Tür. Sie rührte sich nicht.
Dann vernahm sie ein metallisches Klicken; ein Schlüssel wurde im Schloss umgedreht. Smokey knurrte und kam zu ihr gelaufen. Die Tür öffnete sich, schloss sich wieder. Schließlich stieß sie sich vom Fenster ab und drehte sich um.
Entsetzen traf sie mit der Wucht eines Schlages, als sie den Mann erblickte, der in die Kabine gekommen war. Sie hatte das Gefühl, in eisiges Wasser gestürzt zu sein und nun zu ertrinken.
Philip Ascot breitete die Arme mit lässiger Anmut aus. „Überraschung, mein
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