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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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läufst du mit einer solchen Jammermiene herum?< >Das kann ich dir sagen, Hans<, sagte Kurt. >Ich habe ein Problem, das mir zu denken gibt.< Sein Freund fragte, welches Problem das sei. >Es ist so<, sagte Kurt. >Ich werde das blöde Gefühl nicht los, daß es ein kleines Detail gibt, in dem man uns belügt. <
    Und so hörte der Aufsatz auf.«
    Ismael nickte nachdenklich. »Und was hat dein Lehrer dazu
    gesagt?«
    »Er wollte wissen, ob ich dasselbe blöde Gefühl hätte wie Kurt. Als ich bejahte, wollte er wissen, worin wir meiner Meinung nach belogen würden. Ich sagte: >Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht mehr als Kurt.< Er glaubte natürlich nicht, daß ich das ernst meinte. Er hielt das Ganze nur für eine Übung in Erkenntnistheorie.«
    »Und hast du immer noch das Gefühl, daß du belogen wirst?«
    »Ja, aber es macht mir nicht mehr soviel aus wie damals.«
    »Nicht? Warum?«
    »Weil ich herausgefunden habe, daß es in praktischer Hinsicht keinen Unterschied macht. Ob wir belogen werden oder nicht, wir müssen trotzdem morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, Rechnungen bezahlen und so weiter.«
    »Es sei denn natürlich, ihr hättet plötzlich alle das Gefühl, belogen zu werden - und ihr wüßtet alle, worin die Lüge besteht.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn nur du die Lüge kennen würdest, hättest du wahrscheinlich recht - es würde keinen Unterschied machen. Aber wenn ihr alle sie kennen würdet, würde das wahrscheinlich sogar einen ganz großen Unterschied machen.«
    »Stimmt.«
    »Dann liegt unsere Hoffnung also darin.«
    Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber er hob seine ledrige schwarze Hand und sagte: »Morgen.«
    8
    An jenem Abend machte ich einen Spaziergang. Ich mache nur selten Spaziergänge um des Spazierengehens willen, aber in meiner Wohnung verspürte ich plötzlich unerklärliche Beklemmungen. Ich mußte mit jemandem reden, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Oder vielleicht mußte ich meine Sünde beichten: Ich hatte wieder unreine Gedanken, dachte wieder an die Rettung der Welt. Oder vielleicht fürchtete ich einfach, daß ich träumte. Wenn ich an die Ereignisse des Tages zurückdachte, schien es tatsächlich so. Ich fliege in meinen Träumen manchmal und sage mir dabei jedesmal: »Endlich passiert es wirklich und nicht nur im Traum!«
    Auf jeden Fall hätte ich gern mit jemandem geredet, aber ich war allein. Das ist mein normaler Zustand, den ich mir selbst gewählt habe - zumindest sage ich mir das. Bloße Bekanntschaften befriedigen mich nicht, und wenige Menschen sind bereit, die Lasten und Risiken einer Freundschaft einzugehen, wie ich sie mir vorstelle.
    Die Leute halten mich für einen Muffel und Menschenfeind, und ich sage ihnen, daß sie wahrscheinlich recht haben. Streitigkeiten aller Art und über alle möglichen Themen habe ich schon immer für Zeitverschwendung gehalten.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich: Es könnte sogar jetzt noch ein Traum sein, denn man kann auch im Traum schlafen, und man kann sogar im Traum träumen. Mein Herz pochte heftig, als ich routinemäßig das Frühstück machte. Es schien sagen zu wollen: Wie kannst du so tun, als seist du ganz ruhig?
    Die Zeit verging. Ich fuhr in die Stadt. Das Gebäude stand noch da. Auch das Büro am Ende des Flurs im Erdgeschoß war noch da.
    Als ich die Tür aufmachte, traf mich der intensive, beißende Geruch Ismaels wie ein Schlag ins Gesicht. Mit wackligen Beinen ging ich zum Sessel und setzte mich hin.
    Ismael musterte mich durch die dunkle Scheibe. Er schien zu überlegen, ob ich der Anstrengung eines ernsthaften Gesprächs gewachsen sei. Als er zu einem Schluß gekommen war, begann er ohne jede Einleitung zu sprechen. Im Lauf der Zeit merkte ich, daß das sein üblicher Stil war.

Zwei
    1
    »Seltsam«, sagte er, »aber es war mein Wohltäter, der mein Interesse am Thema Gefangenschaft weckte, nicht meine Situation. Ich glaube, ich habe schon angedeutet, daß die Ereignisse in Nazideutschland schwer auf seiner Seele lasteten.«
    »Ja, das habe ich mitbekommen.«
    »Wie ich deiner gestrigen Geschichte über Kurt und Hans entnehme, hast du dich näher mit dem Leben der Deutschen unter Adolf Hitler beschäftigt.«
    »Näher beschäftigt? Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich habe nur einige der bekannteren Bücher gelesen - Speers Erinnerungen etwa oder Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches sowie einige Untersuchungen über Hitler.«
    »Dann verstehst du sicher, was Mr.

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