Ivo Andric
ein dunkelhaariger Junge von etwa zehn Jahren
aus dem Bergdorf Sokolowitschi schweigend und trockenen Auges um sich. In
seiner rotgefrorenen Hand hielt er ein kleines, krummes Messer, und zerstreut
zerschnitzelte er damit den Rand seines Korbes, aber gleichzeitig betrachtete er
alles um sich herum. Er prägte sich das steinige, mit spärlichen, kahlen,
dürftigen grauen Weiden bewachsene Ufer ein, den mißgestalteten Fährmann und
die baufällige Wassermühle, voller Spinnen und Durchzug, in der sie übernachten
mußten, ehe sie alle über die trübe Drina, über der die Krähen krächzten,
gelangten. Als ein körperliches Unbehagen irgendwo in sich trug der Junge – wie
die Schärfe einer schwarzen Schneide, die ihm von Zeit zu Zeit schmerzvoll die
Brust zerteilte – die Erinnerung an diesen Ort, wo der Weg abbricht, wo sich
die Hoffnungslosigkeit und die Trübsal des Jammers auf den steinigen Ufern des
Flusses ablagern, dessen Übergang schwer ist, teuer und voll Unsicherheit. Das
war der wunde Punkt dieses auch sonst steinigen und armen Landes, in dem der
Mangel öffentlich und offenkundig wird, in dem der Mensch, von übermächtigen
Elementen aufgehalten und ob seiner Ohnmacht beschämt, eigene und fremde Not
und Rückständigkeit mit ansehen und klarer einsehen muß.
Alles dies lag in jenem körperlichen
Unbehagen, das in dem Jungen an jenem Novembertage zurückblieb und ihn auch später
nie ganz verließ, obgleich er Leben und Glauben, Namen und Heimat wechselte.
Was weiter aus diesem Jungen im Korb geworden ist, das sagen die
Geschichtsschreiber in allen Sprachen und das weiß man in der weiten Welt
besser als hier bei uns. Mit der Zeit wurde er ein junger und tapferer
Waffenträger am Hofe des Sultans, dann Kapudanpascha (das heißt Großadmiral),
dann Schwiegersohn des Sultans, Großwesir, Heerführer und Staatsmann von
Weltruf, dieser Mechmed Pascha Sokoli, der auf drei Erdteilen zumeist
siegreiche Kriege führte, die Grenzen des Türkischen Reiches erweiterte, es
nach außen sicherte und durch gute Verwaltung im Innern festigte. In diesen
mehr als sechzig Jahren diente er drei Sultanen, erlebte Gutes und Böses, wie
es nur wenige Auserwählte erleben, und erhob sich zu uns unbekannten Höhen der
Macht und des An sehens, zu denen nur wenige für immer kommen. Dieser neue
Mensch, der da in der fremden Welt entstand, in die wir ihm nicht einmal in
Gedanken folgen können, mußte alles vergessen, was er in dem Dorf hinterließ,
aus dem man ihn einst fortführte. Er hatte zweifellos auch den Übergang über
die Drina bei Wischegrad vergessen; das öde Ufer, an dem die Reisenden vor
Kälte und Ungewißheit zittern, die langsame, wurmstichige Fähre, den
wunderlichen Fährmann und die hungrigen Krähen über dem trüben Wasser. Aber
jenes Gefühl des Unbehagens, das von all dem zurückgeblieben war, ist niemals
ganz verschwunden. Im Gegenteil, mit den Jahren und dem Alter hat es sich immer
häufiger gemeldet: immer diese gleiche Schärfe der schwarzen Schneide, die
seine Brust durchzieht und zerteilt mit jenem besonderen, wohlbekannten Schmerz
aus der Kindheit, der sich so deutlich von allen Qualen und Schmerzen
unterschied, die ihm das Leben später gebracht hatte. Mit geschlossenen Augen
wartete der Wesir dann, daß die schwarze Schneide aufhöre und der Schmerz
nachlasse. In einem solchen Augenblick kam er auf den Gedanken, daß er sich von
diesem Unbehagen befreien würde, wenn er jene Fähre an der fernen Drina
beseitigte, bei der sich unaufhörlich das Elend und aller Verdruß sammeln und
ablagern, indem er die steilen Ufer und das böse Wasser zwischen ihnen
überbrückte, die beiden Enden des Weges verbände, der hier abgebrochen war, und
so für immer und sicher Bosnien mit dem Osten, den Ort seiner Herkunft mit
den Orten seines Lebens verband. So war er der erste, der in einem Augenblick
hinter geschlossenen Augenlidern die feste und schlanke Silhouette der großen
steinernen Brücke erschaute, die an dieser Stelle entstehen sollte.
Noch im gleichen Jahre begann auf
Befehl des Wesirs und auf seine Kosten der Bau der großen Brücke über die
Drina. Er dauerte fünf Jahre. Dies hätte für die Stadt und die ganze Landschaft
eine außergewöhnlich lebhafte und wichtige Zeit sein müssen, voller Verkehr,
voll kleiner und großer Ereignisse. Aber seltsamerweise blieben in der Stadt,
die seit Jahrhunderten alle möglichen Ereignisse im Gedächtnis bewahrte und
wiedererzählte, auch solche, die nur
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