Ivo Andric
einen solchen Umfang und eine
solche Gewalt an, daß sie alles Lebende und Tote nicht nur in der Stadt selbst,
sondern auch noch in weitem Umkreis in ihren Wirbel hineinzogen. Mit dem
zweiten Jahre wuchs die Zahl der Arbeiter so sehr, daß es ihrer so viele gab,
wie das Städtchen männliche Einwohner zählte. Alle Wagen, alle Pferde und
Ochsen arbeiteten nur für die Brücke. Alles, was nur gehen und rollen konnte,
wurde aufgegriffen und in die Arbeit eingespannt, manchmal gegen Lohn, manchmal
aber auch mit Gewalt, als Fronarbeit. Geld gab es mehr denn früher, aber Teuerung
und Mangel wuchsen schneller, als dies Geld eintraf; bis es dem einzelnen in
die Hände kam, war es schon zur Hälfte aufgezehrt. Noch schwerer als Teuerung
und Mangel drückten das ansässige Volk Unruhe, Unordnung und Unsicherheit, die
jetzt, als Folge der Anhäufung so zahlreicher Arbeiterschaft aus aller Welt,
über die Stadt hereinbrachen. Und trotz Abidagas Strenge waren Schlägereien
unter den Arbeitern und Diebstähle in Höfen und Gärten häufig. Die
mohammedanischen Frauen mußten das Gesicht verhüllen, selbst wenn sie nur auf
ihren eigenen Hof gingen, denn von überallher konnte sie der Blick dieser
zahllosen Arbeiter, der fremden wie der einheimischen, treffen. Und die Türken
in der Stadt hielten viel auf die Vorschriften des Islam, um so mehr, als sie
erst seit kurzem Türken waren und es erst recht keinen einzigen gab, der sich
nicht seines Vaters oder Großvaters als Christen oder neugebackenen Türken erinnert
hätte. Alles dies mißbilligten die älteren Leute mohammedanischen Glaubens
offen und wandten sich ab von diesem verhaßten Gedränge von Arbeitern,
Zugvieh, Holz, Erde und Stein, das sich immer mehr auf beiden Seiten der Fähre
ausbreitete und verwickelte und das mit seinem Wühlen und Wachsen nun schon
ihre Gassen, Höfe und Felder anfraß.
Anfangs waren sie alle stolz auf die
große Stiftung, die der Wesir, der aus ihrer Heimat stammte, errichten wollte.
Damals wußten sie noch nicht, was sie heute sehen, daß dieses herrliche Bauwerk
soviel Aufhebens und Unruhe, Mühe und Kosten erfordern würde. Schön ist es,
dachten sie, dem herrschenden, wahren Glauben anzugehören, schön ist es, einen
Wesir in Stambul zum Landsmann zu haben, und noch schöner ist es, sich eine
feste und wertvolle Brücke über den Fluß vorzustellen, aber was jetzt vor sich
geht, hat weder Sinn noch Verstand. Eine Hölle hatte man aus ihrer Stadt
gemacht, einen Hexenreigen aus unverständlichen Arbeiten, aus Rauch, Staub,
Geschrei und Gewühl. Die Jahre vergingen, die Arbeiten breiteten sich aus und
wuchsen, aber man sah weder ihr Ende noch ihren Sinn. Allem möglichen glich
dies, nur keiner Brücke.
So dachten die Türken, diese
Neutürken in der Stadt, und unter vier Augen gestanden sie, daß ihnen von
Herrschaft und Stolz und künftigem Ruhm schon übel geworden sei und daß sie
gern der Brücke und des Wesirs wieder ledig wären. Sie baten zu Gott, er möge
sie von dieser Heimsuchung befreien und ihnen und ihren Häusern den einstigen
Frieden und die Ruhe des bescheidenen Lebens neben der althergebrachten Fähre
über den Fluß wiedergeben.
Es verdroß die Türken, und erst
recht verdroß es die christlichen Rajas des ganzen Wischegrader Gebietes, nur
daß niemand diese auch nur fragte oder sie ihren Verdruß hätten zeigen können.
Und nun ging es schon in das dritte Jahr, daß die Menschen an dem neuen Bau
mit persönlicher Arbeit, mit Pferden und mit Ochsen fronten. Und das nicht nur
die hiesigen Rajas, nein auch die aus drei umliegenden Gerichtsbezirken.
Abidagas berittene Wachen, die Sejmen, griffen die Rajas auf den Dörfern und
auch in den Städten auf und trieben sie zur Arbeit an die Brücke. Gewöhnlich
überraschten sie sie im Schlaf und fingen sie wie Hühner ein. In ganz Bosnien
warnte ein Reisender den andern, er solle nicht an die Drina gehen, denn wer
dort hinkäme, den nähme man, ohne zu fragen, wer er sei, noch was er sei oder
wohin er reise, und zwinge ihn, ein paar Tage wenigstens zu arbeiten. Die
Christen in der Stadt kauften sich mit Bestechung frei. Die jungen Burschen in
den Dörfern versuchten in den Wald zu flüchten, aber die Sejmen holten sofort
Geiseln aus diesem Hause, häufig auch Frauen, an Stelle der geflüchteten
jungen Männer.
Den dritten Herbst schon fronte das
Volk an der Brücke, und an nichts konnte man sehen, daß es vorwärtsging und
sich die Not ihrem Ende näherte. Der Herbst war schon weit
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