Ivo Andric
Arbeitseifer. Immer war er im Recht geblieben, immer, in allem und gegen
alle. Aber auch das kann ihn jetzt nicht mit Genugtuung erfüllen. Es ist das
erstemal, daß ihm nichts daran liegt. Nur zu sehr war er im Recht! – So viele
Jahre hat er mit angesehen, wie sie die Hände nicht von der Brücke lassen: sie
haben sie gepflegt, gereinigt, die Fundamente ausgebessert, die Wasserleitung
herübergelegt, elektrisches Licht auf ihr angebracht, und dann haben sie sie
eines Tages in die Luft gesprengt, als sei sie ein Fels in den Bergen und kein
Vermächtnis, keine Stiftung und keine Schönheit. Jetzt sieht man, wer sie sind
und worauf sie ausgehen. Er hat das schon immer gewußt, aber jetzt, jetzt kann
es auch der letzte Narr einsehen. An das Festeste und Dauerhafteste haben sie
gerührt und von dem genommen, was Gottes ist. Und wer weiß, wo das noch enden
wird. Nun hat auch die Brücke des Wesirs begonnen, wie eine Perlenkette zu
zerreißen, und wenn es einmal beginnt, kann niemand mehr Einhalt tun.
Der Hodscha bleibt wieder stehen.
Der Atem ist ihm ausgegangen, und die Steile des Weges ist jäh vor ihm
gewachsen. Wieder muß er durch tiefes Atemholen das Herz beschwichtigen. Und
wiederum gelingt es ihm, den Atem zu beruhigen und lebhafter und schneller
weiterzuschreiten.
Aber wenn auch hier zerstört wird,
denkt er weiter, irgendwo wird gebaut. Irgendwo muß es doch friedliche Gegenden
geben, in denen vernünftige Menschen um gute, gottgefällige Werke wissen. Wenn
Gott seine Hand von dieser unglücklichen Stadt an der Drina abgezogen hat, so
hat er sie vielleicht doch nicht von der ganzen Welt und allen Ländern unter
dem Himmel abgezogen. Auch diese werden es nicht ewig treiben können. Aber wer
weiß? – Oh, wenn er doch nur ein wenig tiefer und ein wenig mehr Luft einatmen
könnte! – Wer weiß, vielleicht werden diese Unmenschen, die mit ihrem Tun alles
ordnen, putzen, ändern und zurechtmachen, um es sofort danach zu verschlingen
und zu zerstören, sich über die ganze Erde verbreiten, vielleicht werden sie
aus der ganzen weiten Welt ein wüstes Feld für ihr sinnloses Bauen und
henkerisches Vernichten machen, eine Weide für ihren unersättlichen Hunger und
ihre unfaßbaren Gelüste? Alles kann sein, eines aber kann nicht sein: es kann
nicht sein, daß die großen, mitfühlenden Menschen ganz und für immer
verschwinden, die nach Gottes Gebot dauerhafte Bauwerke errichten, auf daß die
Erde schöner sei und der Mensch auf ihr leichter und besser lebe. Würden sie
verschwinden, dann hieße dies, daß Gottes Liebe auf Erden ausgelöscht und
verschwunden sei. Das aber kann nicht sein.
Mit solchen Gedanken schreitet der
Hodscha immer schwerer und langsamer.
Jetzt hört man ganz deutlich, daß in
der Stadt gesungen wird. Wenn er doch nur mehr Luft einatmen könnte, wenn doch
der Weg nur weniger steil wäre, und wenn er bis zu seinem Hause kommen könnte,
um sich auf sein Lager zu legen und noch jemanden von den Seinen zu hören oder
zu sehen. Das ist das einzige, was er wünscht. Aber er kann nicht. Er kann
nicht mehr das rechte Verhältnis zwischen Atem und Herz herstellen; das Herz
hat den Atem völlig abgewürgt, so wie es manchmal im Traum geschieht; nur gibt
es hier kein rettendes Erwachen. Weit öffnet er den Mund, und er fühlt, wie ihm
die Augen aus dem Kopfe treten. Die Steile des Weges, die auch bisher ständig
gewachsen war, erhebt sich nun unmittelbar nahe vor seinem Gesicht. Sein ganzes
Blickfeld ist erfüllt von dem festen, abschüssigen Weg, der sich in Dunkelheit
verwandelt und ihn ganz umschließt.
Auf der Steigung, die auf den Mejdan
führt, lag Alihodscha und hauchte in kurzen Stößen sein Leben aus.
Ivo Andrić
Ivo Andrić, geboren am 9. Oktober
1892 in Dolac bei Travnik/Bosnien, besuchte die Schule in Sarajevo und
studierte Philosophie in Zagreb, Wien, Krakau und Graz. Während des Ersten
Weltkriegs kam er wegen seiner politischen Tätigkeit gegen Österreich ins
Gefängnis. 1918 wurde er Sekretär der Nationalversammlung in Zagreb. Er
promovierte 1923 zum Dr. phil., ging 1924 in den diplomatischen Dienst und
vertrat sein Land in Rom, Bukarest, Triest, Genua und Madrid. Bei Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs war er Gesandter in Berlin. Zunächst am Bodensee interniert,
lebte er während der Besetzung Jugoslawiens zurückgezogen in Belgrad und
arbeitete an seinen beiden großen Romanen < Wesire und Konsuln > und < Die Brücke über die Drina > , die erst nach dem Kriege
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