Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Wie spitze Nadeln durchbohrten die Worte das weiße Rauschen in Lilys Kopf. »Dafür wirst du mit Schmerz bezahlen.«
»Du hast mich im Stich gelassen!«, schrie Mr Mayfair. »Du hast meinen Sohn getötet, nicht das Mädchen!«
Mit seinen klauenbewehrten Hinterbeinen stieß sich der Drache so kräftig vom Boden ab, dass die Betonplatten unter ihm knirschend zersprangen, und trug seine Beute hoch in die Lüfte. Vergeblich schlug der alte Mann mit seinem Schwert auf den harten Schuppenpanzer ein. Das klirrende Geräusch von Metall auf Stein hallte über den Platz.
»Unser Bündnis ist beendet«, kreischte der Drache, schlug seine mächtigen Kiefer in Mr Mayfairs Schulter und begann, ihn auszusaugen. Mr Mayfair schrie wie am Spieß.
Grandpa kämpfte sich auf die Füße.
Lily nahm das alles wie durch einen Schleier wahr. Nur allzu gerne wäre sie einfach mit dem Stein verschmolzen und hätte sich ausgeruht. A ber der winzige Teil ihres Gehirns, der immer noch imstande war zu denken, sagte ihr, dass das nicht ging. Tye war immer noch da drin. Er brauchte sie.
Die Zähne fest zusammengebissen, schleppte sie sich Stufe um Stufe zum Kirchenportal hinauf, durchquerte stolpernd den Vorraum und kämpfte sich die Marmortreppe zur Chorempore hoch.
Tye lag genau am Rande der inzwischen getrockneten Blutlache. Lily kniete sich neben ihn und löste mit zitternden Fingern die Fesseln. »Wach auf.« Das Sprechen tat weh. Sie hatte entsetzliche Kopfschmerzen. Ihre Lungen kreischten bei jedem Atemzug. »Tye. Wach auf. Bitte.« Kraftlos ließ sie sich gegen seinen Oberkörper sinken und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Bitte.«
»Lily?« Tyes Arme umfingen sie.
»Bitte. Ich brauche dich«, flüsterte sie.
Tye schlug die Augen auf. »Du bist angezapft. Was, zum Teufel, ist passiert?«
Ihr war nach Heulen zumute, aber selbst dazu fehlte ihr die Kraft. Ihre Muskeln fühlten sich hart an wie Stein. Alles tat weh. Sie fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. »Ich habe den Drachen freigelassen.«
Er fluchte.
»Halte durch, Lily«, sagte er dann. »Ich bringe dich durch das Tor. Aber du musst unbedingt wach bleiben.«
Sie versuchte es mit aller Kraft, doch ihre Lider flatterten, schlossen sich.
»Lily!« Er schüttelte sie. »Mach die Augen auf. Braves Mädchen. Na los, komm. Ich trage dich.« Sie nahm ein paar tiefe Züge magieloser Luft und versuchte, sich ganz aufTye zu konzentrieren. »Sieh mich an – ja, so ist es gut.«
Die Welt kippte zur Seite. Alles wurde dunkel.
Eine Sekunde später trug er sie auf den Armen. Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Unter ihrer Wange konnte sie den Schlag seines Herzens spüren. »Ich mag dich.«
»Sehr schön«, gab Tye zurück. »Versuch mal, nicht zu sterben. Wenn du’s schaffst, lade ich dich auf ein Eis ein.«
»Ich mag Eis.«
Sie schrie laut auf, als plötzlich jeder einzelne Knochen in ihrem Körper zu brechen schien. Grelles Licht durchzuckte ihre Augen. Um sich herum hörte sie Stimmen. Sie riefen etwas. Ihr Körper krampfte sich anfallartig zusammen. »Sie schafft es nicht!« »Leg sie hin!« »Da, ja, genau da!« »Mach ihren Mund auf!« Dann spürte sie, wie eine kühle, sirupartige Flüssigkeit in ihren Mund gegossen wurde und ihre Kehle hinunterrann. Hustend würgte sie sie wieder hoch. »Mehr! Sie muss es runterschlucken! Lily, Baby, bitte, du musst das trinken!«
Dann Jakes Stimme: »Nehmt meine!«
Noch mehr wurde ihr eingeflößt. Sie schluckte und schluckte. Magie raste durch ihren Körper, breitete sich aus wie ein Buschfeuer. Ihr Blut begann zu lodern. Ihre Haut sprühte Funken. Sie schlug die Augen auf und blickte in reines Licht.
»Lily, meine Lily!« Grandpa hielt sie fest an sich gepresst und wiegte sie.
Hoch über ihnen zog der Drache seine Kreise, ein schwarzer Schatten vor dem sternenklaren Nachthimmel.
Arme umfingen Lily. Sie badete im Duft von feuchter Erde nach einem warmen Regen. Da wusste sie, dass es diesmal Tye war, der sie hielt. Ihre Wange lag an seiner Brust. Vermutlich hatte sie noch einmal das Bewusstsein verloren. Sie drehte den Kopf und sah auf seine Kinnspitze. Über ihnen wölbte sich schützend der Torbogen von East Pyne. Tyes Blick schweifte über den Platz vor der Kirche, also richtete sie ihre Augen ebenfalls dorthin.
Die freie Fläche war voller Ritter. Über ihren Köpfen kreiste in Spiralen der Drache. Wieder und wieder legte er die Flügel an den Körper und stieß auf sie nieder, griff mit leeren Klauen nach
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