Jade-Augen
Vorstellung also kein bißchen an?« beharrte sie.
Kit dachte einen Augenblick nach: »Doch, ein bißchen.« Neben ihr kniend blickte er ernst auf sie hinunter. »Aber hast du nicht den Wunsch, England kennenzulernen, meine Anna?«
»Noch nicht«, antwortete sie. »Ich glaube nicht, daß es mein Platz ist, Kit. Wenn du dorthin mußt, dann werde ich vielleicht –«
»Nein, das wirst du nicht«, unterbrach er sie. »Ich sagte kennenlernen, nicht dort bleiben, Liebste.«
»Oh.« Dieses Mal befreite sie sich aus seinem Griff, das Kinn auf ihren angezogenen Knien. »Wahrscheinlich möchte ich es schon kennenlernen, wo ich ja noch nie dort gewesen bin. Und deine Eltern werden dich auch von Zeit zu Zeit sehen wollen.«
»Das könnte sein«, stimmte er mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu. »Ich vermute auch, daß sie gerne die Bekanntschaft meiner Frau machen.«
»Oje.« Sie seufzte. »Könnten wir erst nach Tibet reisen?«
»Wohin auch immer du willst, Liebste, solange wir nur zusammen sind.«
»Dann bin ich’s zufrieden«, sie legte sich wieder hin. »Sollen wir jetzt versuchen auf den Gipfel jenes Berges dort drüben zu steigen, wo die goldenen Adler ihre Nester haben?«
»Mach deine Augen zu«, verlangte er, »und ich sehe zu, ob ich uns dort hinaufbringen kann.«
Ihre Arme legten sich um ihn, als er sich neben ihr niederließ. »Du hast mich in dieser Hinsicht noch nie enttäuscht, Ralston, Huzoor. «
»Und so lange ich atme, mein grünäugiger Luchs, wird das niemals geschehen.«
Anmerkung der Autorin
Am Mittag des 17. September 1842 wurden die britischen Geiseln der Obhut von Sir Richmond Shakespear übergeben, der die Aufgabe hatte, für ihre Befreiung zu sorgen. Der afghanische Widerstand war durch die aus Indien geschickte Verstärkung zu Fall gebracht worden, und zur Vergeltung zerstörten die Briten den Basar von Kabul, wo die Körper von Macnaghten und Burnes zur Schau gestellt worden waren. Am 12. Oktober verließen sie Afghanistan, um nach Indien zurückzugelangen, und wurden erneut von Ghazi-Stammesangehörigen in den Pässen schikaniert, die, so könnte man es ausdrücken, das letzte Wort in der Auseinandersetzung behielten. Dost Mahommed kehrte in seine vorherige Stellung zurück, und alle Spuren der britischen Invasion wurden gelöscht.
So endete das Abenteuer, das als einer der schlimmsten imperialistischen Eingriffe des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet wird. Das gesamte Unternehmen war so denkbar schlecht organisiert, daß es ein katastrophales Ende nehmen mußte. Einige der Militärs teilten diese Erkenntnis, wurden jedoch von den Entscheidungsträgern übergangen. Ich habe die historischen Fakten aus dieser Sichtweise dargestellt.
Der Charakter Akbar Khans blieb für zeitgenössische Chronisten wie für spätere Historiker ein Rätsel. Sein fanatischer Abscheu vor den britischen Eindringlingen war sowohl verständlich wie unbestritten, aber seine Freundlichkeit und Höflichkeit den Geiseln gegenüber ist ebenso genau dokumentiert wie seine brutale Einstellung während des verhängnisvollen britischen Rückzugs aus Kabul. Die Meinungen gehen auseinander, ob er die Stammesangehörigen während der Massaker hätte beeinflussen können oder ob er davon absichtlich Abstand genommen hatte. Es herrscht auch Uneinigkeit darüber, ob Macnaghten kaltblütig ermordet worden war oder ob er einem leidenschaftlichen Augenblick der Wut über seinen Verrat zum Opfer fiel. Ich habe selbstverständlich die historische Person Akbar Khans romanhaft ausgestaltet, habe mich jedoch auch bemüht, die historischen Widersprüche seiner Natur zu berücksichtigen.
Colin Mackenzie war einer der wenigen Helden, die dieses Fiasko überlebten. Die Ereignisse, an denen er beteiligt war, habe ich mich bemüht, so genau wie möglich nachzuzeichnen; doch auch hier war etwas Künstlerfreiheit angebracht: Er mußte einen Charakter besitzen, mit dem er Kits und Annabels Leidenschaft dulden und unterstützen konnte.
General Elphinstone, Sir William Macnaghten, Sir Alexander Burnes, Lady Sale und andere sind dargestellt, so gut ich es anhand der von der Geschichte überlieferten Fakten vermochte.
Die Personen und Handlungen von Kit und Annabel sind frei erfunden.
Weitere Kostenlose Bücher