Jaeger
verrottet. Marina trat über die Schwelle und lauschte. Hörte Knarren und Ächzen und das Plätschern des Flusswassers, das unermüdlich an den Grundmauern des Hauses leckte.
Und noch etwas anderes. Leise, helle Schreie. Das Hämmern kleiner Fäuste.
»Josie …«, stieß Marina hervor.
Sie wollte losstürzen, doch Sandro hielt sie am Arm zurück. Verärgert drehte sie sich um und versuchte ihn abzuschütteln.
»Warte«, zischte er. »Denk an die Autos draußen. Wir haben keine Ahnung, wer sich alles im Haus rumtreibt. Wir sollten lieber vorsichtig sein.«
Doch seine Warnung stieß auf taube Ohren. Für Marina gab es nichts mehr außer den Schreien ihrer Tochter. Sie riss sich los und rannte ins Haus.
In der Mitte der Eingangshalle führte eine riesige, zur Hälfte eingestürzte Treppe in den ersten Stock. Marina wartete, bis ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr: Aus einem Zimmer links von der Halle drang das Flackern von Licht. Sie rannte darauf zu.
Und fand sich in einem Raum wieder, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen sein musste. Eine Frau lag regungslos am Boden. Einer der größten Männer, die Marina je gesehen hatte, beugte sich über sie. Ein Stück entfernt stand eine zweite Frau. Sie war nackt, kahlköpfig und hielt eine Pistole in der Hand. Ihr Blick war auf die am Boden liegende Frau gerichtet, doch als Marina eintrat, sah sie auf. Ihre Blicke trafen sich, und Marina erschrak. Sie sah aus wie eine weibliche Version von Frankensteins Monster. Als hätte jemand sie aus lauter Einzelteilen zusammengeflickt. Marina ekelte vor ihrem Anblick, trotzdem ging sie entschlossen weiter.
»Wo ist meine Tochter, du Miststück?« Sie trat ganz nah an die entstellte Frau heran.
Diese musterte sie lächelnd. »Dr. Esposito, nehme ich an?«
Marina blieb stehen. »Sie waren es, oder? Sie haben meine Tochter entführt.«
Der Blick der Frau ging über Marinas Schulter hinweg. »Golem …«
Marina spürte eine Bewegung hinter sich. Ein ranziger Geruch stieg ihr in die Nase, der Gestank von Fäulnis und Zerfall, der mühelos mit dem Verwesungsgeruch des Hauses mithalten konnte. Sie fuhr herum und sah den menschlichen Berg auf sich zukommen. Seine Haut war grau wie die eines Toten. An seinem Arm hingen schmutzige, blutgetränkte Verbandfetzen, unter denen offene Wunden blutig glänzten. Er lächelte.
Dann blieb er abrupt stehen und drehte sich um.
»He da, Freundchen …«
Sandro hatte ihm von hinten auf die Schulter getippt. Er nutzte den Umstand aus, dass der Golem sich nicht bewegte, und schlug zu.
Der Golem sah ihn verdutzt an. Er taumelte unter dem Schlag und kämpfte mit seinem Gleichgewicht. Sandro schickte gleich noch einen zweiten Fausthieb hinterher, woraufhin der Golem in die Knie ging. Er machte ein Gesicht, als wisse er nicht, wie ihm geschieht.
Sandro warf Marina einen Blick zu. »Keine Sorge, den hier übernehme ich.«
Marina wandte sich wieder der kahlköpfigen Frau zu. Ballte die rechte Hand zur Faust, legte ihre ganze Kraft hinein, all ihren Schmerz, all ihr Leid, all die Seelenqualen der vergangenen Tage. Ihre ganze Wut, die Schreie in ihrem Innern, die nicht herauskonnten. Dann schlug sie zu.
Sie traf die Frau am Unterkiefer. Ihr Kopf wurde herumgerissen, und ihr Körper folgte in einer taumelnden Drehung. Die Pistole entglitt ihren Fingern, fiel zu Boden und schlitterte quer über den Fußboden. Die Frau sackte auf die Knie.
Marinas Knöchel brannten, und ihr Arm vibrierte von der Wucht des Schlages. Vielleicht hatte sie sich ernsthaft an der Hand verletzt, aber das war ihr gleichgültig.
Sie bückte sich, packte die Frau am Kinn und riss sie in die Höhe. Die Frau stieß ein ersticktes Knurren aus.
»Wo … ist … meine … Tochter?«
Die Frau grinste. Auf ihren Zähnen glänzte Blut. »Geht’s Ihnen jetzt besser? Nützen wird’s Ihnen aber nichts … Spielt nämlich … jetzt alles keine Rolle mehr …«
Marina hatte erneut die Hand gehoben, um ihr eine schallende Ohrfeige zu verpassen, doch im letzten Moment hielt sie sich zurück. Die Frau starrte zu ihr empor. In ihren Augen flackerte Wahnsinn. »Wo ist sie? Sag es mir …«
Die Frau lachte. »So redet niemand mit mir. Ich bin … Dee Sloane …«
Marina erkannte, dass sie wertvolle Zeit vergeudete. Die Frau weidete sich bloß an Marinas Verzweiflung. Sie versuchte alles andere auszublenden, sah sich um und horchte auf Geräusche von ihrer
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