Jäger und Gejagte
geschwärzte Narbe in einer der Mauern hinterlassen hat. Das skelettartige Gerüst stützender Stahlträger erhebt sich weitere zwanzig oder dreißig Stockwerke, scheint jedoch nie seinen Zenit zu erreichen.
In der Zeit, in der die Arcologie diesen halbfertigen Zustand erreicht hat, sind überall um die Plaza und am Ufer des Harlem River scharenweise Apartmentsilos und Bürohochhäuser aus dem Boden geschossen. Die Leute nennen es eine Renaissance, die Wiederbelebung eines Teils der Südbronx, der seit Jahrzehnten verfällt, von Gangs heimgesucht und mit bösartigen Teufelsratten verseucht ist. Bandit fragt sich, ob das stimmt. Man schreibt das Jahr 2056, und die Herren der Konzernwelt, die vermutlichen Initiatoren dieser Renaissance, sind ihm nie besonders altruistisch vorgekommen.
Die meisten Leute, die in den neuen Silos wohnen und in den neuen Wolkenkratzern arbeiten, sehen wie Lohnsklaven und Execs aus Manhattan aus. Das gleiche gilt für die Tausende von Pinkeln, die jetzt die goldfarbenen Fliesen der Plaza überqueren. Werbebojen schweben über sie hinweg, und die am Himmel leuchtenden Laserreklamen künden von den erstaunlichen Vorzügen von Cyberersatzteilen für jeden Körper, Maßanzügen, Luxuslimousinen und exklusiven Sicherheitswohnungen. Wenn die SIN-losen und Bedürftigen irgendeinen Platz in dieser sogenannten Renaissance haben, kann Bandit ihn jedenfalls nicht sehen. Aber das ist der Lauf der Welt. Oder jedenfalls scheint es so.
Bandit sitzt auf dem kreisförmigen Rand des Springbrunnens, der irgendeinem alten Samurai mit zwei Schwertern und zahlreichen Ringen gewidmet ist. Er spielt auf seiner Holzflöte und beobachtet die vorbeigehenden Pinkel. Das Lied, das er spielt, kommt aus seinem tiefsten Innern. Die Magie, die er wirkt, ist subtil, aber überzeugend, verführerisch, einladend. Der Pinkel, der stehenbleibt, um ein paar Münzen auf den Bettelteller neben Bandit zu werfen, wendet sich ab, hält dann aber noch einmal inne, um auf den Teller zu starren, und legt noch ein paar Scheine nach. Bandit nickt auf eine ganz bestimmte Art und Weise, als wolle er sich bedanken, und spielt eine ganz bestimmte Tonfolge auf seiner Flöte. Der Pinkel zögert, fügt der Sammlung auf dem Teller noch einen silbernen Kredstab hinzu und geht dann seiner Wege. Das ist ebenfalls der Lauf der Welt.
Der Lauf der Welt ist der Lauf der Natur, und Waschbär und seine Art sind ebenso Teil der Natur wie alles andere: Leute, Tiere, Berge und Flüsse. Städte und Wüsten. Nuyen und New Guinea. Waschbär ist natürlich eine Art Dieb. Er bevorzugt Strategie und Tricks anstelle jeglicher Art von Konfrontation, weil Gewalttätigkeiten zwischen denkenden Wesen eine Verschwendung der Energie des Lebens und wahrscheinlich ein Affront gegen die Natur selbst sind. Waschbär geht seinen eigenen Weg, auf dem er Werte und interessante Dinge wie zum Beispiel mächtige Gegenstände sucht, die für seine besondere Art der Magie nützlich sind. Normalerweise sind kleine Diebereien unter seiner Würde. Aber wenn die Art und Weise des Diebstahls schlau und der Zweck gut ist, nun... das ändert alles. Einen Sararimann, vielleicht sogar ein Mitglied der Konzernelite, dazu zu bewegen, seine Nuyen den Armen zu überlassen... Nun, das ist in der Tat ein guter Trick.
Er hat nur einen winzig kleinen Haken.
Ein schwaches Glimmen in der Luft erregt Bandits Aufmerksamkeit. Er wechselt auf astrale Wahrnehmung. Der kleine Geist, der neben seinem Bettelteller hockt, hat die Gestalt eines Waschbärs. Das ist der Beobachter, den er damit beauftragt hat, das astrale Gelände in der Umgebung des Springbrunnens im Auge zu behalten.
Der Geist deutet auf eine Stelle. »Meister, sieh doch!«
Bandit sieht.
Die tausend und noch mehr Auren der Pinkel auf der Plaza werden von einigen besonders hellen überstrahlt, die vor Wut, Entschlossenheit und der Bereitschaft, gewalttätig zu werden, rotglühend leuchten. Bandit braucht gar nicht erst die schwarzgrauen Uniformen der Konzernsicherheitstruppen zu sehen, um zu wissen, wer diese Leute sind und was sie Vorhaben. Er hat keine Systemidentifikationsnummer, keine Konzernidentität. Er befindet sich auf einer Plaza, die Villiers International wie sein ausschließliches Eigentum verteidigt. Die Wachen kommen immer. Das gehört zum Lauf der Dinge, gehört zur Natur.
Aber die Wachen werden noch ein paar Augenblicke brauchen, bevor sie sich durch die abendlichen Massen einen Weg zu ihm gebahnt haben. Er hat
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