Jägerin der Nacht 02 - Day Hunter
erinnern wollte. Der Kampf war nur insofern ein Erfolg gewesen, als dass wir beide überlebt hatten und noch genug Energie besaßen, um auf die Jagd zu gehen. Er war insofern ein Fehlschlag gewesen, als dass mein geliebter Bodyguard Michael nun kalt und tot in der Themis-Zentrale lag.
Grunzend wendete ich meine Aufmerksamkeit dem Mann drüben an der Straßenecke zu. Es kostete mich wenig Mühe, sein von Drogen vernebeltes Hirn zu berühren und ihn mit der Illusion zu uns zu locken, dass ein potenzieller Kunde sich seine Ware anschauen wollte. Als der Mann im Schatten der engen Gasse stand, ließ ich Tristan los und zog mich leise zur gegenüberliegenden Mauer zurück.
„Bring ihn nicht um", flüsterte ich, als der Nachtwandler vorschnellte.
Tristans Opfer hörte meine Worte und konnte noch einen halben Schritt zurückweichen, während ich spürte, wie seine plötzlich aufflackernde Furcht das Dunkel der Gasse und den Nebel von Blutgier durchstieß, aber es war zu spät. Ich trat zurück und presste mich gegen die Backsteinmauer, während der Nachtwandler die Arme wie zwei stählerne Fesseln um den Mann schlang. Ich konnte die Augen nicht abwenden und bemerkte, dass ich es Tristan gleichtat, als er auf die Knie sank.
Als ich in den Geist des Nachtwandlers schlüpfte, schlug eine Welle von Eindrücken über mir zusammen und riss mich hinab. Tristan trank in gierigen Zügen und saugte das berauschend warme Blut in seinen kalten Körper. Ich konnte das krampfhafte Arbeiten seiner Halsmuskulatur förmlich hören, als sie die zähe Flüssigkeit hinunter in den Magen beförderte. Um sich das Festmahl noch etwas zu versüßen, ließ er den Mann bei Bewusstsein. Das Herz des Drogendealers hämmerte wie ein einsamer Kolben in seiner Brust, der rasend arbeitete, ihn aber keinen Zentimeter voranbrachte.
Seine Angst erfüllte die schmale Gasse, übertönte den Gestank nach verfaultem Fleisch und Schimmel und entlockte meinen geöffneten Lippen ein leichtes Stöhnen. Ich kniete auf dem Boden, ballte die Hände zu Fäusten und lauschte, wie der Herzschlag des Mannes sich verlangsamte. Er war ohnmächtig geworden.
„Lass ihn los", sagte ich heiser. Tristan zögerte, tat dann aber wie ihm geheißen. Er lehnte den Mann gegen die Wand, drehte sich um und sah mich an, während er auf den Zehenspitzen wippte. Seine blauen Augen glitzerten und tanzten wie seltene Edelsteine in der Dunkelheit.
Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, schien Tristan wirklich lebendig zu sein. Im Nachtclub mit Thorne war er auf der Flucht gewesen und hatte sich vor Sadira versteckt, sodass sein Charakter durch die ständige Angst vor der Entdeckung nicht richtig zum Vorschein gekommen war. Aber jetzt pulsierte irgendetwas in seinem Inneren vor neuem Leben. Endlich. Es war mein Versprechen, dass ich ihm helfen würde, sich von unserer Schöpferin zu befreien. Ein Versprechen, das ich, wie er wusste, so gut ich konnte, halten würde.
Das Schlurfen und Schaben von Schritten drang in unseren dunklen, blutigen Winkel der Welt. Wir erstarrten beide und warteten ab, wer sich uns da näherte. Von dem Moment an, als Tristan die Zähne in seiner Mahlzeit vergraben hatte, hatte ich unsere Gegenwart verschleiert, wie ich es mittlerweile eher reflexartig als aus bewusster Überlegung heraus tat. Der Schleier schützte uns vor den Blicken all jener, die keine Magie benutzten. Mit anderen Worten, vor allen gewöhnlichen, normalen Menschen.
Beim gleichmäßigen Klang der Schritte hatte der junge Nachtwandler seinen eigenen schützenden Schleier um sich geworfen, der sich sofort mit meinem verwob. Er fühlte sich jetzt kräftiger, und seine Gedanken waren klar und präzise. Ich konnte die Nervosität spüren, die an den ausgefransten Rändern seines Verstandes nagte, aber er blieb vollkommen ruhig, und ich war mir sicher, dass er meinem Kommando folgen würde.
Ein Mann mit kurzem braunem Haar ging rasch an der Gasse vorbei. Sein Schritt war zügig und selbstsicher. Er drehte den Kopf zur Gasse und ließ den Blick kurz durch den engen Schacht wandern. Tristan und ich blieben regungslos stehen und warteten. Einen Augenblick lang fühlte ich mich, als sei ich Jägerin und Gejagte zugleich. Doch der Schritt des Mannes stockte nicht, sein Blick glitt wieder zurück zur Straße vor ihm.
Er hatte uns nicht gesehen. Aber die Hexe und der Werwolf sahen uns. Zwei Schritte hinter dem Mann mit dem kantigen Gesicht gingen eine Hexe in abgewetzten Jeans und ein Lykanthrop in
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