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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Pferd gefallen. Er hatte ein eingegipstes Bein und konnte sehr differenziert die Geräusche verschiedener Rennautos nachmachen, was er Kai nach anfänglicher Schüchternheit auch stolz präsentierte, stundenlang. Der Aufdruck seines Bademantels bestand natürlich auch aus Rennautos. Es war total absurd, vor allem kam dann passenderweise auch noch Leos Großfamilie eingeritten irgendwann, zu fünft, mit Streuselkuchen, dessen größere Hälfte Kai ungefragt auf seinen Nachttisch gestellt wurde. Leos Vater war es gelungen seine beiden Hasen in einer Tragetasche ins Krankenhaus zu schmuggeln. Seine Mutter hatte eine wulstige, ihren Hals umrundende Riesennarbe, die wirklich brutal aussah und, wie sie Kai direkt erklärte, nicht mit einer Mafiavergangenheit, sondern einer verpfuschten Stimmbandoperation zusammenhing.
    »Ich finde, das sieht eher cool aus als scheiße«, antwortete Kai höflichkeitshalber und wurde daraufhin direkt eingeladen, jederzeit bei Familie Halberstedt aus Kleinmachnow vorbeizukommen, gerne auch für mehrere Wochen. Woraufhin Leos kleine Schwestern hysterisch zu jubeln begannen und Kai dachte: Wow, endlich mal wieder normale Menschen. Und danach dachte er irgendwie an den Zirkus und an Samantha, die eigentlich der einzige normale Mensch unter sechs Milliarden zu sein schien, und er würde auch die nächsten vier Jahre nicht mehr aufhören, an Samantha zu denken, keine einzige Sekunde lang, und in dieser Nacht weinte er zum ersten Mal zwei Stunden durch, den Kopf in sein Kissen gepresst, weil alles wirklich zu krass war.
     
    Am Tag vor Kais Entlassung brachte sich der Junge mit den zugeklebten Augen um, dem er in der Intensivstation begegnet war. Der war dreizehn Jahre alt und scheinbar passionierter Skydiver gewesen und hatte seinen Sportunfall zwar querschnittsgelähmt überlebt, sich jetzt aber aus dem vierten Stock des Krankenhauses gestürzt, was Kai im Gegensatz zum Rest der sich in diesem Gebäude befindenden Personen nicht im Geringsten wunderte, sondern nur erinnerte an etwas Wichtiges, das es noch zu erledigen gab. In der Mitte des Raumes stapelte Kai die drei dort verfügbaren Stühle übereinander. Währenddessen erklärte er Leo, er müsse dringend einen sogenannten Fliegenklebestreifen an der Decke befestigen, deshalb der ganze Lärm, und der sehende Junge, mit dem sich die beiden das Zimmer teilten, war eh zu debil, um das in Frage zu stellen. Der spielte desinteressiert Gameboy und kurierte derweil seine Harnleiterentzündung aus. Kai kletterte auf die holprige Stuhlinstallation und sprang mehrmals hintereinander vertikal in die Höhe, um einen Blick auf die Rückseite der Lampe erhaschen zu können. Beim zwölften Mal schaffte er es. Die Lampen hier waren allesamt von der NARVA GmbH hergestellt worden,Industriegebiet Nord, Erzstraße 22, 09.618 Brand-Erbisdorf, wo zur Hölle sich dieser Ort auch befinden mochte. Kai fiel einer vorübergehenden Minderdurchblutung seines Gehirns zum Opfer und aufgrund des damit einhergehenden Haltungskontrollverlustes von der Turmkonstruktion. Er zog sich jedoch, dem Himmel sei Dank, keine weiteren Verletzungen zu.

 
     
    5
     
    Cecile stand mit einer Frau, die sie seit ihrer Geburt mit deren Vornamen anzureden hatte, an einem Flughafen im Süden Europas. Die Frau trug eine Hose in einer Farbe, die ihr gut stand, dazu eine Kaschmirjacke und hohe Schuhe. Selbst morgens um neun war sie zu konditioniert, um auf der ganzen Sohle zu laufen. Sie hieß Gloria. Eines der wenigen Male in ihrem Leben trug Cecile Shorts, wahrscheinlich um ihrer Mutter anhand entwaffnender Teenagerhaut ihren Altersunterschied und den damit einhergehenden Eindruck in Erinnerung zu rufen, den Fremde von ihnen hatten: Sie waren beide Teil derselben durch Abstammung begründeten Lebensgemeinschaft, so fern voneinander sich diese Leben auch abspielten. Cecile hatte keine Sekunde geschlafen und bereute das, die Schlange zum Schalter war lang, die beiden konnten weder ein Wort miteinander wechseln noch charmant mit dieser Sprachlosigkeit umgehen. Als sie endlich einchecken durften, zitterte Cecile, während sie ihren Ausweis hervorholte. Gloria kommentierte das in keiner Weise, forderte beim Steward jedoch unerwartet ein, im Flugzeug neben ihrer Tochter zu sitzen.
    »Sollen wir noch einen Kaffee holen?«, fragte sie, und Cecile antwortete ironisch und mit abgewandtem Blick, sie tue immer nur das, was ihre Mutter ihr sage. Zwei Minuten später lief sie Gloria hinterher durch die

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