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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Detlev, der eine Cola getrunken hatte und wieder zurechnungsfähig wirkte, erzählte ohne Unterlass in einem Ceciles Aufnahmefähigkeit übersteigenden Tempo zusammenhangslose Anekdoten aus seiner Kindheit. Cecile war so verknallt, dass sie kaum hörte, was er sagte. Sobald sie sich ihm körperlich näherte, also in der unbeholfenen Teenagermanier eines bis zur Psychose verliebten Punks ihren Kopf auf seine Schulter legte, rutschte er sofort von ihr weg, seufzte tief und sprach weiter, was sie beleidigt zur Kenntnis nahm, aber nach zwanzig Sekunden wieder vergaß, so wie Frauen die Schmerzen nach einer Geburt vergessen, weil sich das im Rahmen irgendeiner Evolution mal als förderlich erwiesen hat, egal. Er erzählte, wie er als Sechzehnjähriger Autos geklaut und spaßeshalber in irgendwelchen Seen versenkt hatte. Wie er sich an dem Tag, als er auszog, mit seinem Vater geprügelt und nur die Schwester ihn davon abgehalten hatte, ihm eine Stichverletzung zuzufügen. Er sagte tatsächlich »Stichverletzung« und danach, dass sein Vater aber eigentlich ganz lustig gewesen sei.
    »An Weihnachten sagte der immer, man müsse noch den Molotow unter die Tischdecke legen, womit er natürlich Molton meinte, und zwar fünfzehn Mal hintereinander, das war sein Humor. Sparkassenangestellter. Und in seiner Jugend ein total übler Feger, gerüchteweise, wenn ich das richtig mitgekriegt habe, hatte er als Lehrling in der Sparkasse seines Vaters, meines Großvaters, Geld veruntreut. Woraufhin er in fürchterliche Unehren versunken ist und seine Mutter nur noch sagte: Wäre er doch nie geboren. Er wurde aus der Familie verbannt und dann hat er noch zu allem Überfluss wie in Brechts Trommeln in der Nacht ne Frau geheiratet, die aussah wie Marlene Dietrich, meine Mutter, und richtig großbürgerlich war. Ihr Vater war Landespräsident, die hatte in so einer Art Schloss gelebt und war auch total eingebildet. Und beide Familien dachten, das sei nicht standesgemäß. Die Eltern meines Vaters verachteten meine Mutter in erster Linie, weil sie evangelisch war und keine Möhren schneiden konnte. Und den Eltern meiner Mutter war mein Vater zu kleinbürgerlich. Als meine Schwester noch nicht auf der Welt war, hab ich die ganze Zeit alleine in unserem Haus rumgehangen. Und mich an der offenen Stromleitung elektrisiert und gedacht, ich hätte die größte Entdeckung aller Zeiten gemacht. Und immer gehört, wie sich die Erwachsenen über kleine Kinder unterhalten haben. Die haben zum Beispiel gesagt: ›Also Kinder, die brauchen kein teures Spielzeug, die können sich auch mit einer Garnrolle stundenlang beschäftigen.‹«
    »Und was dachtest du da?«
    »Ich dachte: Was istn das fürn Scheiß.«
    »Und, äh, hast du viel geredet mit deinen Eltern?«
    »Mein Vater legte Wert drauf, uns ein paar wichtige Sachen zu vermitteln, ja, zum Beispiel der Holocaust, da war ich vielleicht zehn, und er erzählte, dass das ein unglaubliches Verbrechen gewesen sei, und er war echt betroffen, ich muss dir ja nicht erklären warum.«
    Cecile schüttelte ziemlich debil den Kopf.
    »Ich weiß noch, als mein Sohn ungefähr acht war, hat er irgendwann mal was halb Nazihaftes nachgeplappert von seiner Alkoholikermutter, woraufhin ich ihm sagte, dass Millionen von Juden vernichtet worden seien, und irgendwelche Analogien zum Dritten Reich zog, und er sagte plötzlich: ›Das interessiert mich nen Scheiß, da war ich noch gar nicht da!‹«
    »In dem Alter verzeihlich.«
    »Ja, vielleicht, aber ich war geschockt. Inzwischen nimmt er die Dimensionen, glaub ich, auch so wahr, wie es sich gehört. Der wohnt bei mir. Dreizehn. Die Mutter ist gestorben. Überfordert mich komplett, aber er ist fantastisch. Er ist fantastisch, wirklich, er ist das Beste, was mir je passiert ist, er ist unfassbar.«
    Detlev seufzte und fragte Cecile, ob sie Drogen habe, Cecile verneinte und bot ihm eine Zigarette an, woraufhin er sagte, er habe am Vortag mit dem Rauchen aufgehört, und dann sagte er noch: »Aufgeklärt worden bin ich jedenfalls nicht von meinen Eltern, sondern stilecht auf der Straße.«
    Cecile nickte interessiert. Detlev fuhr fort: »Und ich sage dir, ich war vollkommen von den Socken, ich meine, ich staune auch immer noch darüber, über diese Sensation, ich hätte einfach nicht für möglich gehalten, dass Menschen so was machen, aber dann war es mir plötzlich total plausibel. Gregor Lukas hatte das erzählt, der zeichnete sich in erster Linie dadurch aus, dass er aus

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