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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Wien, falls es dich interessiert. Gestern aus der Psychiatrie geflohen. Eine Verrückte. Sie hat mal ihr zweijähriges Kind bei nem George-Michael-Konzert an der Garderobe abgegeben, deswegen wurde sie letzten Endes auch weggesperrt, sie hatte den Leuten da gesagt, sie sollten sie anrufen, wenn es schreit oder Stress macht, aber es war halt kein Empfang in dieser Mehrzweckhalle. Wie heißt du?«
    »Cecile«, sagte Cecile, und Detlev, der gelangweilt, müde, aber dennoch dem Rest der Anwesenden an Erfahrung überlegen wirkte, sah zwar kurz in ihre Richtung, aber noch immer nicht in ihre Augen.
    »Ist dir langweilig?«, fragte er. Es war nicht im Geringsten als Anmache gemeint, sondern hatte eher was Väterliches. Cecile zuckte mit den Schultern.
    »Du siehst ein bisschen aus wie Sophie Marceau. Und eigentlich sollte hier jetzt auch nur noch französische psychedelic Musik laufen, findest du nicht?«
    Cecile lachte und zuckte wieder mit den Schultern. Danach schämte sie sich dafür, dass sie mit den Schultern gezuckt hatte. Detlev ging hinters DJ -Pult und kramte, nachdem er dem DJ mit auf die Psychologieprofessorin gerichtetem Blick irgendwas zugemurmelt hatte, in dessen Plattenkoffer rum.
    Cecile folgte ihm und setzte sich auf einen Barhocker gegenüber des DJ -Pults. Er legte Musik auf, die sie kaum mitkriegte, weil sie sich die ganze Zeit nur auf ihn konzentrierte, von oben bis unten musterte sie ihn, ein sogenanntes gepflegtes Auftreten, großbürgerliche Überlegenheit, ein roter Stern am Revers seines Anzuges, der so gut geschnitten war, dass er nur von einer Frau ausgesucht worden sein konnte. Nach und nach füllte sich der Laden mit einer Mischung aus Hipsterprototypen und arrivierten, in irgendwelche Kreativitätsfallen geratenen Mittvierzigern, die in Stagedivingstimmung zu sein schienen und rumgrölten. Detlev überließ die Plattenspieler wieder dem DJ , warf seinen Mantel über und ging ohne Verabschiedung zur Tür hinaus, was Cecile das Herz zerriss.
     
    Es war drei Uhr nachts. Cecile stieg in ein Taxi, ihr Geld reichte jedoch nur für die Hälfte der Strecke nach Hause. Der Fahrer schmiss sie mitten auf der Autobahn raus, woraufhin sie völlig unbeeindruckt beschloss, zum ersten Mal in ihrem Leben zu trampen. Sie steckte ihren Daumen raus. Nach zehn Minuten hielt ein grauer Jeep an, aus dem ein bayrischer vollalkoholisierter Typ über sechzig winkte, den sie schon mal als Tatort-Kommissar im Fernsehen gesehen zu haben glaubte. Am Steuer saß seine Freundin, die nicht viel älter war als sie selbst. Cecile stieg ein. Die Frau fragte, wohin sie müsse.
    »Starnberger See. Die Seite, wo die Fischerhütte ist«, sagte sie.
    »Und wohin da genau?«
    »Direkt an den See sozusagen.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Man kann nicht sagen, dass du aussiehst, als würde dir ein Haus am Starnberger See gehören, bist du wirklich sicher?«
    Cecile bejahte erneut. Der Mann erklärte seiner Freundin, die ihren Führerschein offenbar noch nicht lange hatte, dass Straßenbewegung Kampfbewegung sei, woraufhin die Freundin ihr Kaugummi an die Windschutzscheibe spuckte und sagte, dass sie es unfassbar finde, wie ihre große Liebe von dannen gezogen sei, um sich zu einem pedantischen Vollarsch zu entwickeln.
     
    Als Cecile zwanzig Minuten später an der Haustür klingelte, machte Irina zu schnell auf, um entspannt zu wirken. Sie fragte in einer Art unterdrückter Panik, wo Cecile gewesen sei, und Cecile antwortete, sie habe einen Typen kennengelernt.
    Zuerst versteinerte Irinas Gesicht, dann fing sie jedoch an zu erzählen, dass ihr zufällig dasselbe passiert sei, und zwar mit einem dreißigjährigen jüdischen Anwalt, der sie beim Yoga nach ihrer Telefonnummer gefragt hatte und heute zum Abendessen da gewesen sei. Sie sprach davon so detailliert und fröhlich, dass es nur gelogen sein konnte.
    Anstatt schlafen zu gehen, setzte Cecile sich in der Küche an Irinas MacBook, googelte einige aufgeschnappte Textzeilen der Lieder, die Detlev aufgelegt hatte, und danach die dazugehörigen Videos. Die meisten Songs stammten von französischen David-Bowie-Verschnitten, die zu einer Mischung aus Rock und Folklore-Gitarrenmusik über Drogen und Liebe sangen. Manchmal fielen die Worte »looking for you«, und zwar mit Motorradgeräuschen im Hintergrund. Nachdem Cecile mehrmals hintereinander »Utopia« von Karl Heinz Schäfer, »Il Pleut« von Brigitte Fontaine und »Speed My Speed« von Alain Kan gehört hatte, stellte sie fest,

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