Jage zwei Tiger
worden. Abgesehen vom Himmel selbst war alles genauso wie zuvor. Kein ewiges Eis, keine Vulkanausbrüche, kein Atomkrieg.
Jonas’ Mutter bereitete in der Küche das Abendessen zu, und Jonas fummelte an einer kleinen digitalen Videokamera rum. Aus dem Badezimmer hörte man seine beiden Cousinen schiefe A-cappella-Versionen von Charthits singen. Sie waren aus Oer-Erkenschwick zu Besuch, hatten vor, bei einer Castingshow mitzumachen, und wollten zu diesem Zweck ein Bewerbungsvideo drehen.
Jonas nahm seine Aufgabe unverhältnismäßig ernst, während seine Mutter in der Küche in den Waffelteig aschte und sich mit der Mutter der Zwillinge, ihrer Schwester, darüber stritt, ob man Brokkoli kleinschneiden muss, bevor man ihn kocht.
»Scheiß auf den Scheißhimmel«, sagte Jonas, woraufhin Kai anfing, über Cecile nachzudenken, mit der er seit ihrem Einzug ungefähr fünf Worte gewechselt hatte. Er dachte daran, wie sie zu seinem Vater gesagt hatte, er solle ihre gerade auftretende grammatikalische Limitiertheit entschuldigen, aber dass ihr alleine die Inbetrachtziehung des Wortes »Ende« in seiner letzten SMS das Zwerchfell zerrissen habe. Dann war sie heulend ins Badezimmer gegangen und zwanzig Minuten später wieder zurückgekommen, um sich zu entschuldigen, was alles noch schlimmer gemacht hatte. Sobald sein Vater nicht in der Nähe war, war sie normal. Und wenn er wieder auftauchte, verwandelte sich ihr durchaus straightes Wesen zu einer Unterwürfigkeit, mit der sie ihr Leben, ihren Stolz und ihre komplette geschlechtsneutrale Erziehung temporär in die Tonne trat.
Jonas bat Kai, ihm ins Badezimmer zu folgen. Kai lief hinter ihm her, Jonas klopfte an die Badezimmertür, die Extrovertiertere der Zwillinge machte auf, beide kicherten blöd und stellten sich dann der Kamera vor. Zwei Stunden zuvor hatten sie die Backstagedokumentation ihrer Lieblingscastingband auf DVD geguckt. Nach einem Konzert in den Alpen bei irgendeiner Hüttengaudi war die Leadsängerin aus dem Auto gestiegen und hatte aufgrund einer Magenverstimmung in den Schnee gekotzt, was die Zwillinge so beeindruckte, dass sie es mehrere Male zurückgespult hatten und jetzt nachzuspielen versuchten.
Sie hießen Leonie und Helene und waren zehn Jahre alt. Die eine trug ein T -Shirt, auf dem »Von null auf Zicke« stand, die andere gebatikte Schlaghosen, beide hatten mit Haarspangen fixierte Bumspalmen auf dem Kopf. Es war absurd. Leonie erklärte, dass sie sich gerade schminkten. »Aha«, sagte Jonas. »Darf ich euch denn dabei filmen, wie ihr euch schminkt?«
»Ja, klar.«
Sie griffen hektisch nach einem Lipgloss und schmierten ihn sich auf die Augenlider. Dann rannten sie zum an schlechte Boxen angeschlossenen Computer ins Wohnzimmer, um dort aus der Hocke in ehrgeizige Tanzschrittfolgen reinzujumpen. Nach dem zweiten Song war Kai so langweilig, dass er in der Bravo rumblätterte, die die Zwillinge mitgebracht hatten. Vier Seiten zeigten Fotos von Jugendlichen, die sich mit Selbstauslöser nackt fotografiert und im Interview Fragen zu ihrem ersten Sex beantwortet hatten. Es folgte ein Artikel über Justin Bieber, aus dem bereits alle Bilder rausgeschnitten worden waren, und danach eine lange Strecke über in alternativen Zusammenhängen lebende Teenager. Ein Mädchen, deren Mutter eine Zwergpudelzucht hatte. Ein Junge, der bereits mit sechzehn Mathematik studierte und auf die Frage, was er gerade las, die Titel zweier kompliziertester Abhandlungen über Spracherwerb nannte. Als Kai weiterblätterte, sah Jonas, wie sein Gesicht versteinerte. Und dann stieß Kai, zwar leise, aber so erschüttert, dass die Mädchen aufhörten zu tanzen und in seine Richtung starrten, das Wort »fuck« aus.
»Das ist sie«, sagte Kai zu Jonas, ohne seinen Blick von der Bravo abzuwenden. Er hielt ihm die Doppelseite vor die Nase, und Jonas sagte: »Fucking hell.« Das Foto eines blonden Mädchens mit Haaren bis zum Arsch in Sportswear, das gerade in der Mitte einer Manege im Spagat ihr Bein anwinkelte. Darunter mehrere offensichtlich gestellte Aufnahmen von ihrem Alltag. Samantha mit einem älteren Typen im Seidenanzug, der sie ans Trapez hebt. Samantha mit zwei Schlangen um den Hals. Samantha mit fünf oder zehn Geschwistern auf einer hässlichen Ecksitzbank. Samantha in einem glänzenden, eng anliegenden Polyesteroverall, wie sie, über beide Ohren strahlend, auf ihre Tigerbettwäsche zeigt.
»Du hast mir nie erzählt, dass die nur einen Arm hat«, sagte
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