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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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einfachen Verhältnissen stammte, etwas älter war und deshalb alles wusste. Wäre jetzt wahrscheinlich wegen Missbrauch angeklagt. Und zwar so richtig primitiv straßenmäßig – ›Ihr müsst euch nur eins merken: Pin in Loch‹, sagte der immer. Und ich hab den bewundert dafür, auf solche Ideen gekommen zu sein, aber nicht geglaubt, dass das stimmt, da musste ich mich erst mal rückversichern bei Schulfreunden mit normalen Parkettlegereltern, die weniger verkniffen waren als meine Mutter. In so Katholengegenden, wo Sex so verboten war, war das auch einfach mit so viel Kram verbunden und total besetzt. Gleichzeitig völlig umwerfend und gefährlich. Man spielte quasi mit dem Selbstmord, sobald man darüber nachdachte, denn wenn es rauskam, musste man sich umbringen. Dachte man. Insofern fand ich auch diesen Bertoluccifilm toll, wo dieses Mädchen, das immer mit ihrem Bruder so fragwürdige Sachen macht, obwohl natürlich Bertolucci drauf geachtet hat, dass man ihm nirgendwo unterstellen kann, dass – also, wo Goethe das schon viel besser gemacht hat – also bei Goethe schlafen die Geschwister wirklich miteinander, und man denkt, was macht denn der Goethe da, lässt die Geschwister miteinander schlafen, Goethe, das geht doch nicht. Also jedenfalls lässt der die Geschwister miteinander schlafen, und jeder Leser denkt, um Gottes willen, Goethe, Goethe, was machst du da, das darf doch wohl nicht sein. Und dann stellt sich halt im allerletzten Augenblick raus, sie dachten nur, sie seien Geschwister, aber sie sind gar keine. Also, er hat es dann objektiv widerlegt. Egal. Und mein Vater, der hatte ja, glaub ich, mit meiner Mutter das Agreement, dass er ne Geliebte haben durfte. Mausi Gellhaus hieß die. Mausi Gellhaus kam auch mal Heiligabend zum Geburtstag meiner Mutter vorbei und brachte mir dann – obwohl, nee, das war wer anders, das war nicht Mausi Gellhaus. Von irgendeiner Frau hab ich mal so ein unfassbar tolles Kriegsschiff geschenkt gekriegt.«
    »War das aus Schokozigaretten gebastelt?«
    »Nee, das war aus Papier, aber wirklich ganz toll.«
    »Und wann hast du beschlossen, links zu sein?«
    »Das hab ich beschlossen, praktisch gleichzeitig, wie ich beschlossen habe, kein Abitur zu machen und das alles scheiße zu finden, nachdem ich einmal sitzengeblieben war und beim nächsten Zeugnis schon wieder drohte sitzenzubleiben. Und dann hab ich Marcuse gelesen, ›Repressive Toleranz‹, und da hab ich gemerkt, es gibt Leute, die stimmen mir darin zu, dass wir alle nur verarscht werden. Und dann hab ich gesagt, so, jetzt weiß ich, was los ist, wir werden hier alle nur verarscht, und genau das werde ich den Menschen jetzt zeigen. Und schwuppdiwupp war ich ein guter Schüler. Und schon hatte ich in Teilnahme am Unterricht ne Eins. Und sie haben mich weggelobt für meine Kritik an der Menschheit und der Gesellschaft, bis auf den blöden CDU -Arsch Hans-Peter Schröder, der mir trotz unendlichen Nachhilfeunterrichts in Griechisch ne Fünf gegeben hat.«
    Dann erzählte er noch sehr ausführlich, wie er Ende der siebziger Jahre mit fünfzehn einen antiautoritären Verein namens »Föderation Neue Linke« gegründet und sich nicht weniger auf die Fahnen geschrieben hatte als die volle, volle, volle Revolution.
    »Ein Revolutionär war man halt damals«, sagte er, die beiden liefen inzwischen auf den Hauptbahnhof zu, und Cecile lachte, und Detlev lachte mit. Dann fragte er: »Weißt du, was wirklich revolutionär ist?«
    »Dass die Gala keine Celebrity mehr auf dem Cover hat, sondern ein stinknormales Model?«
    Detlev nickte, und sie stiegen in ein Taxi, und in dem Taxi knutschten sie rum, und Cecile konnte echt nicht glauben, was für ein unfassbares Glück sie da gerade hatte.

 
     
    17
     
    Irgendwann eskalierte alles. Kai saß auf dem Schreibtischstuhl in Jonas’ Zimmer und versuchte, parallel zu einem Großteil der restlichen Menschheit, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum der Himmel plötzlich nicht mehr blau war. Hatte er zuerst nur wie von Schleim überzogen grünlich geschimmert, sah er inzwischen aus wie ein zweidimensionaler Green Screen, ein aggressives und unnatürliches Neon machte sich da breit, das, solange es nicht von Wolken abgeschwächt wurde, wirkte, als würde es das Ende der Welt ankündigen wollen. Niemand konnte erklären, was es zu bedeuten hatte. Die Theorie, Gammastrahlen eines Lichtjahre entfernten, gestorbenen Sterns hätten die Ozonschicht zerstört, war mehrmals widerlegt

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