Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
jedes Jahr und mühten sich, das Dornenhaus auf die Leinwand zu bekommen, obwohl der alte Katen kaum zu sehen war unter seinem Kröpelwalm, versteckt hinter ausgewachsenen Dornenbüschen, die noch übers Dach hingen, 45 Grad schräg vom Wind, dick und nicht durchdringlich. Neben dem Grenzweg liefen die vertrauten Schleetzäune her, unverändert fiel die Steilküste ab, wo Pommern anfing, und die Kinder erinnerten sich an Alexanders Erzählungen vom Durchbrechen des Meeres an dieser Stelle. Kahl auf der althäger Seite, war der Grenzweg auf der ahrenshooper dicht bebaut mit Häusern in großartigen Farben, in dem berühmten Blau, mit den Gärten, die gegen den Wind geschützt waren, südlich von der Sonne gepflegt, tief unter dem hohen Anstieg zum Weg, mit Malven in allen Farben bis zum Dach. Die Kinder dachten an Alexanders ernsthafte Erklärung, daß diese Häuser einen Hinterausgang nach Norden hatten aus den Zeiten, in denen Mecklenburg und Pommern Streit hatten und die Bewohner nicht auf den Grenzweg treten durften. Es war das Fischland, und nicht das richtige. Ohne Alexander schienen die Ferien nicht möglich.
Hilde sah bis zum Abend an, daß die Kinder mit ihr und der Welt zerfallen waren. Alexander hatte nicht Urlaub gehabt, sondern einen Reisebefehl nach Südfrankreich, und war gegen den Befehl ausgestiegen, um ihr mit den Kindern nach Althagen zu helfen, die Kinder noch einmal zu sehen. Er hatte es nicht von sich verlangen mögen, ausgesprochen Abschied zu nehmen von den Kindern. Hilde stellte es ein wenig als ihre Schuld hin, daß er am frühen Morgen hatte zurückgehen müssen zu seinem Befehl. Dann verordnete sie im Ton einer Strafe, daß alle Briefe an Alexander schreiben sollten, und hatte die Aussicht auf den nächsten Tag gerettet.
Hilde schickte die Kinder mit den Bauern aufs Feld. Sie fuhren mit auf den holpernden Wagen, liefen mit beim Mähen, versuchten sich im Garbenbinden, saßen und aßen mit den Bauern auf dem schmalen Streifen Erde zwischen den beiden Wassern, kamen ausgetrocknet nach Hause, schweigsam von Müdigkeit, und dachten, sie hätten gearbeitet. Die Hocken auf dem Fischland wurden nicht wie in der jerichower Gegend wie Hausgiebel aufgesetzt, sondern rund, und waren indianische Zelte zum Spielen. Im nassen Mückenwald, dem vom Darss durch die Einbruchspuren der Ostsee getrennten Waldstück, suchten die Kinder Blaubeeren, bekamen sie abends mit Milch vorgesetzt und glaubten, sie lebten von ihrer Hände Arbeit. Hilde war imstande, einem Kind bis in den Mückenwald nachzulaufen, wenn es seinen Sonnenhut vergessen hatte. Das althäger Haus war mit einem dichten Damm aus Kieselsteinen umlegt, der das Regenwasser vom Dach gleichmäßig im Erdreich verteilen sollte. Die Reinigung des Damms von Unkraut wurde als ehrender Auftrag vergeben und hieß »Damm puken«. Der abendliche Gang zum Baden war wie Arbeitslohn. Durch ein sehr hohes Feld auf der niehäger Seite lief ein Weg zum Hohen Ufer, zwischen vom Wind geschonten Weiden und Pappeln, ein gewöhnlicher Karrenweg, der immer wieder unverhofft vor dem Abgrund zum Meer anhielt. An Alexander wurden Briefe geschrieben über den Kettenhund auf dem Nagelschen Hof, der einen öffentlichen Durchgang zum Deich und Boddenweg nicht dulden wollte, über Begegnungen auf der Dorfstraße, über Besuche bei Alexanders Freunden. Es erwies sich, daß Ferien zu erfinden waren, hatte man sie einmal von Alexander gelernt.
Heute weiß ich, daß die Ferien von anderer Art waren.
Nicht weit von Althagen, auf der anderen Seite des Saaler Boddens, war das Konzentrationslager Barth. Darin wurden Häftlinge aus der Sowjetunion, aus Holland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, aus Ungarn gehalten und mußten für einen ausgelagerten Betrieb der Ernst Heinkel Flugzeugwerke A. G. arbeiten. Der tschechische Arzt Dr. Stejskal hat eine Liste geführt über die Frauen und Männer, die auf dem Friedhof von Barth und in Massengräbern beerdigt wurden. Es sind 292 Namen. Aus Barth wurden 271 Leichen von Häftlingen an das rostocker Krematorium geschickt. Die Todesursachen hießen »Tuberkulose«, »Lungenentzündung«, »Selbstmord«. Dort wurden Menschen »auf der Flucht erschossen«, und wenn eine Frau immer noch nicht an Flugzeugen zum Einsatz gegen ihr eigenes Land arbeiten wollte, wurde sie zurückgebracht ins Konzentrationslager Ravensbrück und mit Gas ermordet. Wir wußten es nicht. Hilde Paepcke ist mit uns nach Barth gefahren, über die Drehbrücke, damit wir
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