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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Freunde in seinem Hotelzimmer. Sie mußten über die trocknende Pfütze seines Blutes vor der Tür hinwegtreten. Jemand hatte eine zusammengeknüllte Zigarettenpackung in das Blut geworfen.
     
    – Wenn die Bank schon früher schließt, wäre es um Mittag richtiger gewesen.
    – Inzwischen haben die Neger alle Tunnel und Brücken vermint.
    – Die Negersoldaten in Viet Nam schicken sich Waffen nach Hause. Was glauben Sie, was die Post so täglich an Maschinengewehren in New York ausliefert!
    – Und Handgranaten. Und Plastikbomben.
    – Auf der Madison Avenue haben sie eine weiße Frau mit ihrem Kind erstochen, weil sie einen Nerzmantel trug.
    – Und wir schicken sie auch noch nach Viet Nam, damit sie den Nahkampf lernen.
    – Erst die Indianer. Dann die Schwarzen.
    Es tut mir leid, daß sie ihn erschossen haben, Bill.
    Daß Sie höflich sind, Mrs. Cresspahl, ich weiß es.
    Es tut mir leid.
    Und doch, wenn heute nacht die schwarzen Leute aus Harlem hierher kommen; keinen Finger werd ich für Sie rühren, Madam. Wissen Sie überhaupt, was das ist, Angst haben?
    Ja.
    Nichts wissen Sie. Sie sind nicht schwarz.

6. April, 1968 Sonnabend
    »Mrs. Martin Luther King
    St. Joseph’s Hospital
    Memphis, Tennessee
    Liebe Mrs. King:
    Zu dem persönlichen Verlust, den Sie erlitten haben
    der Ihnen zugestoßen ist
    den die Weißen Ihnen zugefügt haben, möchte ich Ihnen
    mei-«
     
    »Mrs. Coretta King
    Lorraine Motel
    Memphis, Tennessee
    Sehr geehrte Mrs. King:
    Angesichts des Verlustes, der Ihre Kinder und Sie betroffen hat,
    der Ihnen und Ihren Kindern von den Weißen bereitet wurde, und dessen nationale Bedeutung auch nicht durch das offizielle Beileid der Bundesregierung gemindert werden kann,
    werden Sie mit Befremden sehen, daß in Ihrer wie in dieser Stadt die Bürger auf dem Broadway spazieren gehen, den arbeitsfreien Tag genießend, nicht ohne Wohlgefühl in der Sonne. Sie wissen von dem gestrigen Gedächtnismarsch durch New York, der Arbeitsniederlegung der Stauer im Hafen, den Auftritten des Bürgermeisters Lindsay in den Ghettos. Allerdings sind bei uns einige Geschäfte geschlossen, darunter jüdische, die dem Sabbath diesmal auch eine andere Bedeutung zulegen als die der eigenen Religion, auf mit der Hand geschriebenen Papptafeln, dem Andenken Ihres Mannes zuliebe und ihn zu ehren. Aber es sind nicht viele Autos, die mit Standlicht fahren am hellichten Tag. Jedoch sind reichlich Passanten unterwegs, die Einkäufe zum Osterfest zu besorgen, die für heute und morgen ausgesetzten Sportveranstaltungen werden nachgeholt, womöglich sogar am Dienstagabend, und ich möchte Ihnen versichern, daß nicht alle damit einverstan-«
     
    »Mrs. Martin Luther King
    Southern Christian Leadership Conference
    Atlanta, Georgia
    Sehr verehrte Mrs. King,
    Nachdem ich anfangs mich entschuldigen wollte für das Telegramm, das meine Tochter gestern abend an Sie gerichtet hat, möchte ich nur sagen, daß das Kind noch nicht elf Jahre
    daß ich mich nun gerade dem impulsiven und unbeherrschten Ton jenes Telegramms anschließen möchte, in einer Verfas-«
    Warum kann ich es nun nicht! Sagt es mir!
    Es ist etwas Wirkliches, Gesine.
    Es ist doch nicht ein gewöhnlicher Tod.
    Ein Tod wie der unsere. Vorhersehbar, wahrscheinlich. Ebenso auch unwahrscheinlich.
    Weil er nicht Kennedy war?
    Weil er ein Neger war. Ob er Gewaltlosigkeit predigte oder Gewalt. Dieser war nun zu sichtbar geworden.
    Deswegen müßte ich doch einen Brief -
    Nein Gesine. In was für einem Land lebst du, aus freien Stücken? In einem Land, in dem Neger umgebracht werden. Was willst gerade du da schreiben.
    Ja. Nichts. Nichts.

7. April, 1968 Sonntag
    Die Bildberichte von den Unruhen in Washington zeigen schmutzigen Rauch, klumpig in den Straßen, weit ausgebreitet über die Stadt. Er verdeckt das Weiße Haus: sagt die Unterschrift. Auf einer anderen Fotografie steht eine niedrige Zeile Häuser eng bei einander, einige schon zu leeren Kästen ausgebrannt, mit halb eingestürzter Fassade. An einigen hat das Feuer noch zu fressen. Es sind amerikanische Häuser, kenntlich an den flachen Dächern, den waagerecht geteilten Fenstern. So sähe ein Krieg in amerikanischen Städten aus.
    In Mecklenburg, im Lyzeum zu Gneez, hieß es noch im Januar 1945: Du kriegst Order, und Bescheid kommt nach! nicht ohne militärischen Einschlag, als wären die Lehrer nichtgezogene Unteroffiziere allesamt. Sie konnten es gebildet fassen und sagen: Das Denken überlaß den Pferden, die haben

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