Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
durchgegeben wurde, aber die eigenen Jäger kamen nicht mehr nach Jerichow Nord, und die Alliierten zogen am hellichten Tage hoch über der Ostseeküste nach Deutschland hinein, unangreifbar, hochmütig.
Wie es in Rostock Schuljungen gab, die Lübeck den ersten Platz in der Bombardierung nicht gönnten, so ärgerten sich Jungen in Jerichow, daß die Briten und Amerikaner ihren Platz nicht einmal eines leichten Angriffes für wert hielten. Alles was sie bekamen waren die Stanniolstreifen, die die Alliierten zur Täuschung der deutschen Funkmeßtechnik abwarfen. In Wismar, in Rostock gab es einen Handel mit Flaksplittern. In Jerichow waren eben erst Fliegerabwehr-Maschinengewehre besetzt worden; anderswo waren Kanonen aufgestellt.
Hamburg, Lübeck, Bre-men,
die brauchen sich nicht zu schä-men …
Cresspahl war immer weniger nach dem Fliegerhorst Mariengabe gefragt worden, seit er nicht mehr Jägerstützpunkt war. Die Umrüstung und Umschulung von Fremdpeiler auf U. K. W.-Landeanlagen für Blindflug und Nachtjagd war das Letzte gewesen, was seine Auftraggeber dringlich bestätigt wünschten; danach waren sie nicht einmal enttäuscht gewesen, daß er das Bombenzielgerät nicht finden konnte, dessen Erprobung in Jerichow angenommen wurde. Er trug gelegentlich nach, welcher Fliegeringenieur neuerdings der Werftgruppe der Handwerker vorstand, wer die Basisgeschäfte des Standorts nun besorgte; was er seit Anfang 1944 hatte unternehmen sollen, waren Reisen mit den dienstlichen Genehmigungen von Leslie Danzmann oder mit den Luftwaffenstempeln von Jerichow Nord. Wer in die Nähe der Luftwaffenerprobungsstelle Rechlin fährt, hat dort Verwandte zu besuchen oder nach Ersatzteilen und Holz zu fahnden; bei Ribnitz lag nicht nur die Walther Bachmann-Flugzeugwerke A. G., da war auch ein Kind aus den Ferien abzuholen. Wo immer es anging, fügte er seinen Berichten Angaben über die mecklenburgischen Konzentrationslager bei, damit wohl die heinkelschen Betriebsauslagerungen getroffen wurden, nicht aber die ausländischen Zwangsarbeiter bei Krakow, in Retzow bei Rechlin, in Neustadt-Glewe, Rövershagen, Reiherhorst bei Wöbbelin und besonders in der Comthurey bei Alt-Strelitz. Die Insassen dieses Lagers hatte er in der Nähe des Bahnhofs gesehen, als sie zur Arbeit auf das Gut des S. S.-Obergruppenführers Oswald Pohl getrieben wurden, krummgeschlagene, wie verhungerte Tiere trottende Menschen.
Alle Deutschen haben es gewußt, Gesine. Die S. S. nannte es K. L.
In der richtigen Abkürzung.
Die Deutschen aber haben es sich mundgerecht gemacht, gleich zu Anfang.
Konzertlager. K. Z.
Nicht einmal: K. Z. L.
Willst du immer noch nicht aufrechnen, Cresspahl?
Nè, Gesine. Ich mach mir das allein zurecht.
Cresspahl war nun heil herausgekommen. Immer wieder hatte die Flugplatzkommandantur Übungen durchgeführt, die Sicherheit zu überprüfen. Aber Cresspahls Türen auf dem Platz waren nach der Vorschrift verschlossen gewesen. Einmal war ein Ic vom Luftgau gekommen, ein ältlicher Major, und Cresspahl hatte sich zwei Tage lang beobachtet gefühlt. Dann war es doch nur gewesen, weil der Lisbeths Geschichte kannte, von den von der Deckens her. Die Spionageabwehr hatte Leute auf den Platz geschleust, die sich ausgaben als verlegt; sie fragten aber umher, luden mit abschätzigen Äußerungen über die S. S. zu Vertraulichkeit ein, und jedes Mal hatten sie ihn aufgeben müssen als harmlosen Alten, wunderlich geworden, dumm im Kopf von einem Unglück mit seiner Frau.
Vielleicht war ich es, Gesine.
Ja. Nicht mehr als ich.
Wieder hieß es in Jerichow, daß Cresspahl sich doch noch auf die Einrichtung seiner Sachen verstehe. Seit die Jugendlichen und die Alten zu Übungen im Volkssturm eingezogen wurden, trug Cresspahl die Uniform eines Luftwaffenfeldwebels und hatte ein ordentliches Soldbuch in der Tasche. Auf dem Flugplatz würde der Krieg still zu Ende gehen, und er war wieder einer von denen, die ohne Schießen und Erschossenwerden durchkommen sollten.
Jerichow Nord hatte keinen Treibstoff mehr und betrieb nichts als Grundausbildung, alle drei Monate einen neuen Durchgang. Der Flugplatz war still geworden.
In Jerichow wurde Ende Januar für Wehrmacht und Volkssturm gesammelt, Sachen wie Wäsche und Kleidung »aller Art«, Tornister, Spaten, Sonnenbrillen, und doch kamen die Hitlerjungen diesmal mit fast leeren Handwagen zurück zur Ortsgeschäftsstelle der Partei. Unter den Spenden war Schuhzeug, weniger wert als die
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