Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
den größeren Kopf! Wenn ein Kind gesagt hatte: Ich dachte -.
Das Cresspahlsche Kind sagte nicht, was es dachte, saß freundlich beobachtend da und merkte sich, wie das Lehrpersonal umging mit einem Kind, das etwas gedacht hatte. Das Cresspahlsche Kind hatte ein Geheimnis. Sie wußte, daß der Krieg gleich zu Ende war. Sie hatte Cresspahl aus der Schule erzählt, etwas vom Sterben Londons unter den V-2-Raketen, und ihr Vater ließ sich ertappen bei einem überraschten, dann deftigen Lachen, das aber so aussah, als verschlucke er sich. Das Geheimnis bedeutete aber, daß es in wenig Wochen vorbei sein würde mit dieser Schule.
Es war für ein Kind zu sehen. In Jerichow gab es noch Familien, deren Eltern glaubten an die Volksgemeinschaft und kauften keine Lebensmittel schwarz, da hungerten die Kinder. Die Bauern, die Handwerker waren zum Tauschhandel zurückgekehrt. Cresspahl litt keine Not mit seiner Pfeife, den versorgten seine französischen Kriegsgefangenen mit; Lise Wollenberg aber ging bei den Schulfahrten durch den ganzen Zug und suchte nach einer gewissenlos weggeworfenen Kippe für ihren Vater, denn auf die Raucherkarten hatte es wieder nur 10 Zigaretten auf sechs Abschnitte gegeben, und diese Zuteilung lief nur für vier Wochen. Die Kinder sahen es auf dem Bahnhof von Gneez. Der öffentliche Verkehr von Schnell- und Eilzügen war eingestellt; mit den gewöhnlichen Zügen durften nur noch auswärts Beschäftigte fahren, und Schulkinder. Die Alliierten hatten das deutsche Eisenbahnnetz nun kaputt. Der gneezer Bahnhof war still geworden. Ganz selten kam ein Gespensterzug für Dienstreisende durch, von wenigen Leuten auf dem Bahnsteig erwartet. Nach Wendisch Burg durften nur noch Postkarten geschrieben werden, und die Briefträgerin in Jerichow hatte in ihrer Tasche mehr Fernbriefe, die sie den Absendern zurückbringen mußte, als von auswärts angekommene. Das Cresspahlsche Kind war auf der Rander Chaussee angehalten worden, weil es zum Vergnügen an die Ostsee gefahren war; gegen das Benutzen von Fahrrädern über mehr als drei Kilometer gab es eine Verordnung, die galt sogar für die Hitlerjugend. Das Cresspahlsche Kind hatte dem Vater die Anfrage der Lehrerin ausgerichtet, wann es denn nun endlich dem Jungmädelbund beitreten werde, mit doch immerhin elf Jahren, und Cresspahl hatte einen Entschuldigungszettel wegen der Fahrschülerei geschrieben, insgeheim aber gesagt: Nè. Nu nich mihr, Gesine.
Unter den Erwachsenen in Jerichow aber ging das Gespräch oft um die Seidenschwänze, die unverhofft aus dem Norden eingefallen waren, zierliche Tiere mit rötlich grauen, weißlichen, rötlich gelben Farben, im Körperbau Haubenlerchen ähnlich. Bei den Großvätern waren diese Vögel noch angesehen gewesen wegen ihrer Begabung, das Wetter im Voraus zu wissen, eben weil sie so unstet blieben und reisten; in der Regel sollte ihre Ankunft einen strengen Winter angekündigt haben. Für einige war dieser strenge Winter auch gleich die deutsche Niederlage. Andere aber sagten, ein Deutschland, das noch die Eisenbahnlinie von Jerichow nach Wismar (oder Lübeck) führen werde, könne seinen Krieg nicht verlieren.
Dann wurde der Flugplatz still. Starts lohnten nicht mehr das Zählen, kaum die Landungen. Der Fliegerhorst Mariengabe, Stolz Jerichows, begann zu sterben.
Hamburg, Lübeck, Bre-men,
die brauchen sich nich zu schä-men;
Jerichow is væl to lütt:
dor schitt keen Düvel, wenn he nich mütt -.
Und Otto Quade bekam einen Schlag hinter die Ohren. So hatte das Lied eine Zeit lang nicht heißen müssen. Jerichow hatte Luftwaffe gehabt.
Der Fliegerhorst Mariengabe war einer von der jerichowschen Art gewesen, von Anfang an. Als er noch zum Luftgau III Berlin gehörte, hatte er nur ein Einsatzhafen werden sollen, ein kleiner Knoten in einem großflächigen Netz, ein Rollfeld von fünfhundert mal tausend Metern in Westrichtung, später ein weiteres senkrecht dazu. Es hatte nicht nur an der schwächlichen Bauwirtschaft der Gegend gelegen, daß er erst nach dreieinhalb Jahren fertig war, auch an der später aufgegebenen Planung der Langstreckenbomber, mit der die Kerle in Berlin dann auch die Wichtigkeit von Jerichow vergaßen, und es hatte sein Kränkendes gehabt. Gewiß, es waren dann immer mehr Truppen auf den Platz gelegt worden als die 300, die schon im Oktober 1938 eingerückt waren, dem Augenschein zuliebe; dann aber wurde der Platz umgegliedert in den Luftgau XI Hannover, nichts als Hannover, unter das
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