Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Instandsetzung. Manche hatten eine löcherige Pferdedecke gegeben, damit Eduard Tamms nicht nachsuchen kam. Von Käthe Klupsch war das Uniformkoppel ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg dabei, denn Käthe Klupsch war abergläubisch und meinte, daß
ein
guter Wille noch verschlüge, wo die anderen aufgegeben hatten. Cresspahl hatte nichts mehr gegeben.
Die Front stand Ende Januar bei Breslau. In Jerichow wurde der Luftlandealarm bekanntgemacht, ein langer Sirenenton von fünf Minuten, oder das Läuten der Kirchenglocken.
Warten konntest du ja, Cresspahl.
Da hab ich aufgehört zu warten, Gesine. Es war ja nichts mehr da, nur du. Es kam nun nichts mehr für einen wie mich.
8. April, 1968 Montag
Gestern wurde die Familie von Martin Luther King am offenen Sarg fotografiert: Yolanda, Bernice, Martin Luther III , Dexter und die Mutter. Der Kopf ihres Vaters liegt sonderbar tief. Die kleinste Tochter, Bernice, die mit dem Kinn kaum bis zum Rand des Kastens reicht, versucht über ihn hinwegzusehen. Die anderen Kinder wissen, daß sie die Leiche ansehen müssen. Sie sind aber die senkrechte Blickrichtung nicht gewohnt.
Der Generalstaatsanwalt hat den Mord zum Bundesverbrechen erklärt. Die Begründung für die Ausnahme bezieht sich auf ein Gesetz, nach dem das Bundeskriminalamt für die Verfolgung eines Verbrechens zuständig ist, wenn dadurch eine Person ihrer bürgerlichen Rechte beraubt wurde, in diesem Falle also Dr. King seines Lebens.
Bei uns, auf der westlichen Seite des Broadway, an der 96. Straße, ist der Kleiderladen neben Charlies Gutem Eßgeschäft heute zum zweiten Mal eingeschlagen und ausgeraubt. Auf das Sperrholz an Stelle des Schaufensters sind handgeschriebene, unbeholfene Klagezettel geheftet. Einige Passanten bleiben stehen, um sie zu lesen, unterschreiben auf vorgehaltene Petitionen. Sie werden beobachtet von Negern, die in einer wartenden Haltung dastehen.
Auf einem der Zettel hat der Besitzer des Ladens die Frage gestellt: Was soll daraus werden?
In roter Schrift, anderem Duktus ist daruntergesetzt: Daß wir dich umbringen, wirst sehen. Du bist weich.
9. April, 1968 Dienstag
Heute wurde Martin Luther King beerdigt.
Auf den Wiesen im Central Park saßen Familien und Liebespaare auf Decken und machten Picknicks in der Sonne.
Die Schulen, Banken, Börsen geschlossen.
Vor der Orchestermuschel im Central Park waren die viertausend Sitze dicht besetzt, viele Menschen standen noch hinter den Barrikaden der Polizei. Leopold Stokowski fielen beim Dirigieren immer wieder die Haare ins Gesicht. Da waren ein Mädchenchor in roten Gewändern und das Amerikanische Sinfonieorchester. Als wir kamen, spielten sie Auszüge aus dem Deutschen Requiem und der Matthäuspassion, dann die Ode an die Freude.
Der Zoo, das Karussell und die Reitstation im Central Park waren vollgepackt mit Kindern, die den schulfreien Tag ausnutzen wollten. Der Park war im vollen Frühlingsgrün, gelb und rötlich mit Blüten besetzt, bunt auch von Radfahrern, Mädchen mit Hunden, Spaziergängern. Aus den Transistorradios kamen die Nachrichten vom Fortgang der Beerdigung.
Am Kolumbuskreis war einem Würstchenverkäufer das Sauerkraut ausgegangen, und er entschuldigte sich viele Male. Ein solches Geschäft habe er noch nicht erlebt in diesem Jahr. In der Subway waren die Bänke kaum besetzt. Vielleicht waren die Neger unter den Angestellten nicht vollzählig zum Dienst gekommen, wegen der Fernsehübertragung aus Atlanta.
Vor dem Rathaus standen junge Leute, meist Studenten, und hielten eine Schweigewache, barhäuptig. Sie standen da schon seit zehn Uhr, und blieben, bis die Uhr Mittag schlug.
Die Schilder in den geschlossenen Geschäften sagten nun nicht mehr alle handgeschrieben: Wir trauern um Martin Luther King. Einige wiesen inzwischen mit gedruckten, geprägten, säuberlich gemalten Buchstaben darauf hin, daß der Laden dem Toten nicht nur Achtung erweise, sondern obendrein auf eine solide Art.
Leute, die hinter uns stehen blieben, sprachen gelegentlich von Drohungen der Neger gegen Geschäftsleute, die nicht freiwillig schließen wollten.
Oft war zu hören: Es ist wie bei Kennedy. All die Glocken in der Luft -
Weibliche Personen dürfen in Wes’ Bar zu Mittag essen, wenn sie nicht an der Bar selbst bedient werden wollen. Von unserer Nische war bequem zu Wes hinüberzusehen. Einmal ging er mit ausgebreiteten Armen auf ein Mädchen zu, das hinter den männlichen Kunden auf seine Aufmerksamkeit wartete. Bewillkommnend
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