Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
aus. Die New York Times fügt hinzu, fast erstaunt: Herr Dutschke stand nicht unter dem Schutz der Polizei. Das werden sie immerhin noch lernen müssen.
Präsident Johnson hat 24 500 Reservisten zum Krieg in Viet Nam einberufen. Vor wenigen Tagen hat er noch von 13 500 gesprochen.
Zu Ostern vor 29 Jahren hat Cresspahl einen jüdischen Flüchtling aus Berlin weggeschickt. Er war aus einem Konzentrationslager entkommen, war wieder bürgerlich gekleidet, schien verkleidet in weißem Sommermantel und Jägerhut, und auch sein Benehmen saß so locker auf ihm, als könne alles von Minute zu Minute abfallen von ihm und er stünde da mit nichts als der erinnerten und der gegenwärtigen Angst. Gronberg; der Vorname ist vergessen. Ein Tabakhändler aus Schöneberg in Berlin. Er wollte mit einem Fischer nach Dänemark. Cresspahl behielt ihn so lange im Haus, wie er den Besuch noch als Erkundigung nach dem Weg ausgeben konnte, er mag ihn auch zum Essen eingeladen haben; er ging aber nicht mit nach Rande, einen Fischer überreden helfen. Eine Dreiviertelstunde Wegs hatte der Mann nach seiner langen Reise noch bis zur See, und Cresspahl schickte ihn allein weiter. Er erklärte mir nach dem Krieg, er habe um dieses Einen willen nicht seine Sache mit den Engländern (gegen die Deutschen) gefährden dürfen. Oft glaubte ich, dies zu verstehen. Ich wünschte sehr, Cresspahl auch hierin zu verstehen.
Für die Juden beginnt an diesem Abend die Feier zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten vor mehr als 2000 Jahren, und bei den Ferwalters wird das nur dies Mal im Jahr benutzte Geschirr stehen mit dem Gebäck und dem Wein, den Symbolen für Mörtel und Stein der ägyptischen Pyramiden, und Rebecca wird die vier Fragen zur Eröffnung des Festes stellen, viermal werden Ferwalters Wein trinken, auf die Erlösung der Juden aus der Leibeigenschaft, aus der Sklaverei, aus der Abhängigkeit von Ägypten und schließlich auf die Beförderung zum auserwählten Volk, dem selektierten, und wieder wird Marie an diesem Abend nicht in die Wohnung ihrer Freundin dürfen. Marie merkt da nur Neugier.
Die Ferwalters haben ihr Passahgeschirr aus Deutschland. Wir haben Karsch um Hilfe gebeten, und tatsächlich bekam er es billiger und schickte es in separaten Päckchen, jedes unter der new yorker Zollgrenze. Es ist eine kostbare Sache, mit kobaltblauem Rand, nach einem großbürgerlichen Geschmack, aber wir haben es nie zu Gesicht bekommen. Wenn nicht Passah ist, ruht es in Leinen und Plastik verpackt im Ferwalterschen Wäscheschrank. Es ist ein Service von Rosenthal, da Mrs. Ferwalter die Firma des Namens wegen für jüdisch geführt hält.
Louise Papenbrock hatte ein Service von Rosenthal, mit vielen grünen Fischen, die sich durch Schilf wanden, und die Papenbrocks nannten dies Geschirr »Rosenthaler«, auch bei den wenigen Gelegenheiten, da die Semigs zu Besuch waren.
Unsere Bäckerei am Broadway ist heute eine jüdische geworden. Es gibt kein Brot mehr außer das ungesäuerte, weil bei dem hastigen Auszug aus Ägypten der Teig so hatte mitgenommen werden müssen, und das Gebäck ist ausgewechselt gegen die Sachen aus Nüssen, Rosinen, Äpfeln und Zimt, was Mrs. Ferwalter Makronen nennt. Denn Mrs. Ferwalter kam hinter uns in den Laden, stellte sich mit Vergnügen auf neben uns und umfaßte uns wieder und wieder mit ihrem herzlichen, angewiderten Blick.
Was mag Dora Semig gemeint haben, als sie sich erklärte zu einer »Jüdin, die ich bin«? Ist sie bei den Tschechen oder den Franzosen zum Glauben der Juden übergetreten? Hat Semig am Ende in der Fremde versucht, wie die Juden zu leben?
Mrs. Ferwalter weiß es nicht, wieso Salz koscher sein kann, wieso im Supermarket jetzt nicht mehr bloß Waren mit dem Aufdruck »kosher« liegen, sondern durch Bescheinigung des Rabbiners als »kosher for Passover« gekennzeichnet sind. Ist es, weil beim Passahgebäck kein Mehl verwendet wird? Wie kann Salz koscher sein? Sie weiß es nicht. Sie hob ihre fetten Schultern, wiegte ihr gutmütiges, angeekeltes Gesicht hin und her, als ob der Unterschied doch nicht verschlüge. Die Kundin vor uns legte ein großes Paket mit Matze vor den Kassierer und sagte dabei zu ihrer Begleiterin: Ich habe die Matze satt!
Mrs. Ferwalter machte mit großem, aufhorchendem Lächeln auf die unorthodoxe Person aufmerksam, als höbe sie vor Schülern den Finger und zeigte, wie man es nicht machen darf. Dann bezahlte sie für die eigene Matze, ein kleines, sparsames Paket.
Auf dem
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