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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Wendisch Burg. Von Jerichow aus ließ sich zusehen und abwarten, wer zuerst auf Wismar zurückte. Wer zu früh nach Westen ging, lief doch in den Krieg hinein. Allerdings hatte eine alte Frau in der Schulstraße nun ein Geschäft bekommen, weil sie sich auf das Wahrsagen verstand. Und in die Stadtapotheke wurde eines Nachts eingebrochen, weil Dr. Berling keine tödlichen Tabletten verschreiben wollte, nicht einmal für den Fall, daß doch die Russen kämen. Da waren aber keine Schlafmittelgifte mehr zu finden, die hatte die N. S. D. A. P.-Kreisleitung für eigene Bedürfnisse besorgt, weil die Parteifunktionäre alle Schußwaffen an die kämpfende Truppe hatten abgeben müssen.
    – Und Cresspahl baute auf dem Flugplatz weiter »Nachrichtenkästen« für den deutschen Sieg.
    – Er holte mit einem geliehenen Pferdegespann seine Maschinen ab und fuhr sie in einen Ziegelschuppen neben dem Haus. Mir ist, als hätte er sie einfach abgestellt, zugedeckt, die Tür verschlossen, nichts mehr getan. Saß in der Sonne, die Pfeife bequem schief zwischen den Zähnen, wärmte sich die Hände. Wartete.
    – Er wollte nicht weg von seinem Eigentum.
    – Das war vor dem Gesetz mein Eigentum, Marie.
    – Du kennst mich, Gesine. Du weißt: auf Väter falle ich herein.
    – Er hatte mir sogar verboten, zur Schule nach Gneez zu fahren. Das erste Mal kam ich zurück und erzählte, daß wir nur hatten Gedichte aufsagen müssen, »Archibald Douglas« und Verwandtes, damit doch die Schule das Gesicht nicht verlor, schon schickte er denen ein Attest von Berling und eins von den seinen, »meine Tochter wird im Haus gebraucht«. Es waren vergnügte Tage.
    – Du faules Schulkind, Gesine.
    – Ja. Und ich saß mit »unseren« Franzosen auf der Milchbank und übte ihnen das verbotene Lied ein. In der Wehrmacht stand unter Strafe es abzusingen, in Jerichow Nord wurde es bei Annäherung eines Vorgesetzten abgebrochen, aber Cresspahl stand zufrieden dabei und hörte sich die ungeschickten Versuche von Maurice und Albert an. Deutsch eine swere Sprack.
    – Sing es vor.
    Es geht alles vorüber,
    Es geht alles vorbei:
    Im März geht der Hitler,
    Im Mai
    Die Partei -.
    – Du kannst tatsächlich nicht singen. Entschuldige.
    – Hier kommt die 6. Luftlandedivision der Engländer.
    – Ausgezeichnet. Lauter weiße Fallschirme in einem Himmel wie diesem, die auf den Flugplatz Jerichow Nord heruntersinken.
    – Die 6. Luftlandedivision kam am 2. Mai durch Gneez und beeilte sich in Richtung Wismar. Nach Jerichow schickten die ein paar Mann auf Lastwagen.
    – Nicht einmal Panzer?
    – In Lübeck zog die II . Panzerdivision ein. Was sollten die in Jerichow?
    – Nie machst du den Krieg aufregend, Gesine!
    – Damit du etwas davon hast?
    – Na. Ja.
    – Sie ließen sich von Kutschenreuther den Flugplatz übergeben und befahlen ihm, die Verwaltung fortzuführen. Sie setzten Tamms als Bürgermeister ab und befahlen ihm, in kommissarischer Funktion weiter zu amtieren. Dann suchten sie nach einem neuen.
    – Und Cresspahl zeigte ihnen den halben Penny mit dem Prägejahr 1940.
    – Es war nicht wie in Filmen. Sie verfielen auf Kliefoth, aber der hielt es für nötig, ihnen in voller Uniform entgegenzutreten, mit sämtlichen Orden und Ehrenzeichen behangen. Es war wohl eher Papenbrock. Bei dem hatten sich Offiziere Quartier gemacht, und Papenbrock rutschte zurück in die alten Zeiten, wollte etwas deichseln, etwas vergeben, etwas verdienen. Sie besahen sich den Schwiegersohn des putzigen Alten, und da er in der Tat mit ihnen sprechen konnte, machten sie ihn zum Bürgermeister, mit Tamms als Stellvertreter.
    – Gesine.
    – Wenn du darauf bestehst. In der ersten Juniwoche fuhren die Sicherheitsoffiziere von der 2. Armee den Kampftruppen hinterher und überprüften die Bürgermeister. Sie hatten Cresspahl auf ihrer Liste. Für die holte er ein Stück Holz, das einmal eine Wasserwaage gewesen war, schraubte das Messing in der Mitte heraus und zeigte die Münze.
    – Das kann ich mir nun nicht ohne Umarmung vorstellen. Oder ohne große Worte.
    – Marie, das waren Offiziere. Berufsoffiziere. Cresspahl war mit Kutschenreuther bequem zurechtgekommen, durch pünktliche Arbeit und Dummtun, aber der war am Ende doch Reserve, ein Schuhfabrikant aus Osnabrück, tüchtig und umsichtig gewiß, ein kleiner Mann, mit einer Art zu befehlen, als glaube er doch nicht, daß man ihm gehorchen werde. Die, die Cresspahl besuchten, waren von der anderen Art, die sich nur abseits

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