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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Weg die 95. Straße hinunter fiel ihr ein, daß sie die Sache doch wußte: Die Leute wollen doch nur Geld damit machen! sagte sie. - Everything is business! wiederholte sie, sehr zufrieden in der Rolle der Älteren, mehr in der Welt Befahrenen, die der jungen Cresspahl und ihrem Kind Belehrungen in den Wegen des Lebens erteilen darf. Beim Abschied an der West End Avenue drückte sie Marie zärtlich gegen ihre mächtigen Hüften, wie ihr eigenes Kind. Dann hatte sie uns abgegeben von ihrer Festtagsfreude und ging von dannen, etwas mühsam auf ihren umfänglichen Beinen, die die deutsche S. S. ihr kaputtgemacht hat.
    In den Ubahnhöfen sind Plakate ausgehängt, die einen alten Indianer zeigen, mit wettergekerbter Miene, schwarzem Zopf unter schwarzem Hut, mit funkelnden Augen vor Vergnügen, daß er eben in ein Produkt einer jüdischen Firma beißen darf:
    Wer sagt denn, daß Sie jüdisch sein müssen,
    Um unser jüdisches Brot zu genießen!
    Auf solchen Plakaten werden mit Vorliebe Hakenkreuze angebracht. Zwar sind sie nicht korrekt nach der Mustervorlage gezeichnet, aber heute abend habe ich eins mehr gesehen als heute morgen.

13. April, 1968 Sonnabend Tag der South Ferry
    aber von der Anlegestelle St. George sind wir mit Bussen weiter gefahren über Staten Island und dann auf die Verrazano-Brücke, hoch über der Öffnung des Hafenbeutels, weit hinaufgehoben in den weißlich blauen, rundum warmen Himmel, und durch das südliche Brooklyn nach Coney Island, wo die Bürger in bunten Hemden und Kleidern auf der hölzernen Strandpromenade den Sommer vorwegnahmen, bis zu dem Bahnhof der Subway an der Stillwell Avenue, vor dem es nach Marie die besten Heißen Hunde New Yorks gibt, die einzigen nicht vergifteten Würste, und eine Stunde lang fuhren wir unter der Erde zurück, unter dem East River und Manhattan hindurch bis zu unserer 96. Straße am Broadway, und waren am Abend müde wie von Ferien. Unterwegs wollte Marie Gelegenheiten benutzen dazu, daß ihre Mutter den Krieg verlor.
     
    – Wie waren denn die Sowjets zu dir? fragte sie. Sie sah da nicht wenig mißtrauisch aus, und sie war bereit, mir von normalen Erzählungen über die Russen wenigstens die Hälfte abzustreichen, weil ich nicht wie sie die Sowjets für etwas Undiskutables halte, oder schlicht für »die anderen«. Sie hat ihren Antikommunismus gelernt wie etwas, das mit der Luft eingeatmet wird.
    – Nach Jerichow kamen doch die Briten, Marie.
    – Die Briten, gewiß. Weil Cresspahl es mit den Engländern hatte, mußten sie es sein, die zu ihm kamen. In deinen Geschichten muß ja alles zusammenhängen, stimmen, ohne einen Haken, ohne das kleinste Mauseloch! sagte sie. Es war ihr letzter Versuch. Immer noch konnte ich gestehen, daß Cresspahls Sache mit den Engländern durch deren Einrücken in Jerichow zwar wahrscheinlicher wurde, nicht aber wahr. Zum letzten Mal versuchte sie, ihren Großvater reinzuwaschen von dem Verrat an seinem Land.
    – Es waren die Briten, und Cresspahl war es gleichgültig, Marie. Er war doch fertig mit ihnen. Die Arbeit war zu Ende. Im Januar 1945 hatte er aus Hamburg die Anweisung bekommen, auf das sorgfältigste in Deckung zu gehen und sich nun ja nicht mehr zu gefährden.
    – Ordentliche Leute waren sie ja.
    – Ordentlich, und verschwiegen. Sie haben ihn kein Mal mehr belästigt, bis Ludwig Krahnstöwer der Mund überlief, bloß weil er siebzig wurde.
    – Es kann Cresspahl nicht gleichgültig gewesen sein, ob er sein Kind bei den Sowjets aufwachsen ließ. Gesine!
    – Er hat nicht versucht, mit mir ins Holsteinische zu gehen. Dort saß ein Vetter auf einem Hof, der hätte uns durchbringen können. Die Kommandantur von Mariengabe -
    – Ich wünschte, du würdest sagen: Jerichow Nord. Es ist, als wolltest du mich mit meinem Namen hereinziehen.
    – Die Kommandantur hätte ihm ohne zu fragen einen Marschbefehl nach Ostholstein ausgestellt und auf das sicherste gestempelt. Es genügte ihm aber, daß er wie die anderen in der Werfthandwerkergruppe förmlich aus der Deutschen Luftwaffe entlassen wurde, vordatiert auf Mitte April. Kutschenreuther bot sogar der Truppe Entlassungspapiere an, aber es wollten so wenige weg, daß auf dem Fliegerhorst noch am 2. Mai morgens der reguläre Dienstbetrieb lief, mit Hissen der Fahne, mit Exerzierübungen und Instruktion am Gerät.
    – Wieso war denn Jerichow sicherer als ein anderer Platz?
    – Es lag in der Mitte. Am 29. April drangen die Briten in Bremen ein, besetzten die Sowjets

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