Als ploetzlich alles anders war
Warum Louisa?
Es passierte im letzten Sommer, als Teresa zum ersten Mal ein Geheimnis hatte. Im Mai war sie gerade dreizehn geworden und hatte sich plötzlich so erwachsen gefühlt. Sie hatte gedacht, ihre Schwester Louisa, die erst elf war, würde überhaupt nicht verstehen, was in ihr vorging. Darum hatte sie ihr nichts von dem Jungen erzählt, der zu einer Gruppe von Hip-Hop-Tänzern aus ihrem Viertel gehörte.
Damals hatten sich die beiden Schwestern noch ein Zimmer geteilt. Louisa hätte daran nie etwas ändern wollen, während es für Teri allmählich zu einem Albtraum geworden war. Sie war ja kaum mal ein paar Minuten allein und dann fing Louisa auch noch mit dieser verdammten Fragerei an: Warum bist du so komisch auf einmal? Hab ich dir irgendwas getan? Sag mir doch, was mit dir los ist, Teri. Wir haben uns doch immer alles anvertraut, warum jetzt nicht mehr? Ich finde das echt gemein, dass du mich so auflaufen lässt!
Manchmal tat sie Teresa leid. Aber meistens machte sie das Gequengel bloß wütend, weil Louisa sich nicht abschütteln ließ. Sie kam nicht mal auf die Idee, dass ihre Schwester einfach nur ihre Ruhe haben wollte. Anstatt sich mit ihren beiden besten Freundinnen zu treffen, hatte sich Louisa im letzten Sommer fast völlig auf Teresa fixiert. Und als die Ferien anfingen und die Freundinnen verreisten, wurde es so schlimm, dass Teri dann irgendwann völlig den Kopf verloren hatte. Das war keine Entschuldigung, nur eine armselige Erklärung, die ihr aber dabei half, es wenigstens ein bisschen zu verstehen.
Warum Louisa, dachte Teri oft, warum nicht ich.
Heute war Teri schon sehr früh aufgewacht. Es war noch völlig finster draußen. Sie hatte diesen einen Traum geträumt, den sie seit dem letzten Sommer mit kleinen Abweichungen immer wieder träumte. Diesmal war der Junge darin aufgetaucht, den sie kurz vor dem Unglück zum letzten Mal gesehen hatte. Es war an diesem Tag so heiß gewesen, dass der Asphalt ganz weich geworden war und die Luft zum Schneiden dick in den Straßen gestanden hatte. Ein Tag, an dem man eigentlich ins Freibad hätte fahren sollen, anstatt in der brütenden Hitze durch die Stadt zu radeln. Nie wieder würde sich Teri jetzt unbefangen auf irgendeinen Sommer freuen können! Immer würde sich ein schweres, dunkles Gefühl um die Freude spannen. Ein Gefühl von Schuld und Scham, das sie vermutlich nie wieder verlassen würde.
Dabei hatte sie doch nur den Jungen noch einmal sehen wollen, bevor sie mit ihrer Familie in die Ferien fuhr. Sie wusste genau, wann und wo sich die Straßentänzer des Viertels immer trafen.
Louisa hatte sich wie üblich nicht abschütteln lassen und Teri hatte ihr doch nicht sagen können, wie lästig sie ihr inzwischen war, so war sie ihr einfach davongefahren.
Als die ersten Gewitterböen an jenem Tag durch die Straßen fegten, segelten sogar einige Sonnenschirme von den Balkonen. Teri hatte Angst, dass die Tänzer gleich mit den ersten Regentropfen verschwinden würden. Dann hätte sie den Jungen vielleicht nie wiedergesehen und sie war deshalb immer schneller gefahren.
Hatte sogar das Tempo beschleunigt, bis sie das Scheppern und den Schrei hörte, der alle anderen Geräusche auszublenden schien.
Im Traum hörte sie ihn nie. Da hörte sie nicht einmal die Leute sprechen, da dachte sie die Worte immer nur. Sie hatte ja auch nicht gesehen, wie es passiert war. Diese Sekunde, als der Schrei über den Platz hallte, jene eine kostbare Sekunde, ein für immer verlorener Augenblick, als Louisa nicht aufgepasst hatte und vom Rad gestürzt war, während Teri wie eine Irre einem Ziel entgegenraste, das sie nie erreichen sollte.
Als sie sich umgedreht hatte und ihre Schwester mit völlig verdrehten Gliedern auf dem Straßenpflaster liegen sah, das Haar unter ihrem Kopf ausgebreitet wie ein Kissen aus dunkler Wolle, da dachte Teri zuerst, sie wäre tot und gleich bliebe ihr auch das Herz stehen.
Als ihr diese Bilder in schneller Folge durch den Kopf schossen und sie daran erinnerten, was sie getan hatte, ergriff Teresa auch jetzt wieder dieses panikartige Gefühl. Wie sie dann zu Louisa gelaufen war, völlig verrückt vor Angst, wie sich allmählich Leute um sie scharten, während Teresa neben ihrer reglosen Schwester weinend auf dem Straßenpflaster hockte und irgendwann der Regen einsetzte. Große, schwere Tropfen, die auf den leblosen Körper einschlugen und erbsengroße Dellen auf der dünnen Plastikplane hinterließen, die einer der
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