Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Anklängen an Gottesdienst. Die Neger im Wagen sind ernst, verstecken ihre Mienen in Müdigkeit, leiden unter der feuchten Luft, die in den Tunnel nachgekrochen ist. (Um Grand Central hatten schüttere Regennetze gehangen.) Ein Weißer versucht, mit Blicken auf die singenden Neger andere zum Grinsen einzuladen, vergeblich. Allen Fahrgästen in dem rasenden, schwankenden Wagen ist die Gefahr für die beiden verrutschten Schwarzen gleichgültig. Wenn die Bahnpolizei sie vor der eigenen Station vom Zug holt, wird die eigene Verspätung unvermeidlich. Wir wollen das nicht, wir wollen nach Hause, wir kommen vom Arbeiten, rabotatj, rabotatj! Die singen, die wollen jemand lebendig machen.

16. April, 1968 Dienstag
    Die New York Times spricht über die unruhigen Studenten in Westdeutschland nachsichtig, auf Gerechtigkeit bedacht, eine alte Dame, die junge Leute zu verstehen meint. Ihre wahre Sorge ist jedoch, die ostdeutschen Kommunisten könnten die Unruhen für ihre Zwecke benutzen, und unversehens gerät ihr die Meinung zu einem Brief an die Sowjetunion: möchte sie doch Herrn Ulbricht nicht noch ermuntern.
    Die Sowjetunion hatte ihre Gruppe Ulbricht längst in Friedrichsfelde bei Berlin abgesetzt, noch vor der Kapitulation der deutschen Streitkräfte; Jerichow aber glaubte sich sicher bei den Briten.
    Die Briten in Jerichow wollten zeigen, daß sie Respekt für ihren Bürgermeister wünschten, und schickten ihm morgens einen Fahrer mit Jeep, der ihn zur Arbeit brachte und von einem Ende der geringfügigen Stadt zum anderen. Sie setzten ihm den Union Jack auf das Rathaus und stellten ihm einen Posten vor sein Zimmer. Sie halfen ihm und machten aus seinen amtlichen Anschlägen Wirklichkeiten:
    Das Militärgericht verhängte für Kartoffeldiebstahl bei 30 Kilogramm 1 Jahr Gefängnis, bei 15 Kilogramm ein halbes Jahr Gefängnis; für die Benutzung eines Motorrades ohne Genehmigung der Militärregierung neun Monate Gefängnis; für Ausgehen während der Sperrstunde 3 Monate Gefängnis;
    wer aber Cresspahl anspuckte, bekam wegen Beleidigung eines Vertreters der britischen Krone neun Monate Gefängnis und mußte sie absitzen in dem Keller unter seinen Amtsräumen. Und Cresspahl war der einzige Deutsche in Jerichow, der den elektrischen Strom nicht nur für den Betrieb des Radios benutzen durfte. Denn die Offiziere der Abwehr, die Cresspahl überprüfen kamen, hatten sich doch entschließen müssen, Eduard Tamms in ein Gefangenenlager mitzunehmen, trotz Cresspahls Bitten; nun saß der ungelernte Bürgermeister oft tief in der Nacht noch auf dem Rathaus und baute mit Leslie Danzmann an der Schreibmaschine aus Worten seine Bekanntmachungen zusammen, bei elektrischem Licht.
    So bekam Jerichow ein recht ordentliches Ansehen. Als Karsch sich aus dem sowjetisch besetzten Gebiet nach Jerichow durchgeschlichen hatte, ist ihm die Stadt geradezu opulent erschienen. Zwar waren die Schaufenster leer, und sogar die Handwerker hatten an ihren Türen vermerkt, noch längeres Klopfen sei zwecklos, und selbst seine kleine Flasche Petroleum aus Wendisch Burg machte ihn geradezu vermögend an Zigaretten; es gab aber keine Schlangen vor den Dienstzimmern des Rathauses, hier mußte kein Flüchtling auf freiem Felde übernachten, und ein streunender Soldat wurde schon am Ortseingang abgefangen und in das Lager Jerichow Nord abgefahren, überprüft, gefüttert (Offiziere vom Major aufwärts nach wie vor gemäß dem Luftwaffenverpflegungssatz I, wegen der Kutschenreutherschen Selbstverwaltung) und nach wenigen Tagen in Richtung Westen abgeführt, und wenn er in Jerichow bleiben wollte. Unter dem weißen Sommerhimmel saß die Stadt klein und beruhigt da, wie im Frieden. Am 15. Juni hob Montgomery einige seiner Befehle vom März auf; nun durften britische Soldaten mit kleinen deutschen Kindern sprechen und spielen. Jeden Abend um neun Uhr wurde die Stadt gehorsam still und dunkel; auch die Kinder hatten den Hunger mittlerweile gelernt. Das unordentlichste Haus war das Cresspahls.
    Er hatte das halbe Haus verteilt unter Flüchtlinge aus Pommern, später auch Ostpreußen; er hatte nicht Zeit, auch da noch Ordnung zu halten. In seinem Haus lagen zwei Kinder krank an Typhus; er verließ sich darauf, daß Frau Abs sie mit ihren Schrotsuppen am Leben hielt und womöglich kurierte. Es war das Gesicht von Jakobs Mutter, das ich in diesem Sommer über mir sah, hager, trocken, schmaläugig; verzweifelt, wenn wir zum Essen zu schwach waren.
    Cresspahl hatte

Weitere Kostenlose Bücher