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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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an eine verschollene Handelsstadt, von der nur ein paar Trümmer übrig waren. Am Bahnhof von Neubukow, noch als sie in den Bus stieg, fragte das Kind, ob er denn zuverlässig nach Alt Gaarz fahren werde, und der Fahrer nickte ihr mehrmals zu, beruhigend, billigend. Das war mal ein anständig gezogenes Kind. Das Kind bekam von ihm einen Platz in der vordersten Reihe.
    Am Postamt von Rerik stand Klaus Niebuhr, abermals unzufrieden, daß diese Gesine ohne Eltern in der Welt umherreisen durfte; dennoch zu sehr Kenner Reriks von sieben Tagen, als daß er ihr nicht den Führer hätte machen sollen durch eine Stadt, in deren Mitte strohgedeckte Bauernhäuser standen, ganz anders als in Berlin-Friedenau. Die Kirche, mit einem wuchtigen Turm, hoch gelegen, war von fast überall zu sehen, und Klaus verglich sie doch abschätzig mit der Kirche »Zum Guten Hirten«, die er zu Hause hatte. Er ließ sich aber Zeit, führte sie zu den Hünengräbern, auf die Strandpromenade am Hohen Ufer. Das Land war ganz kahl unter dem weißen Himmel, baumlos. Von der Höhe konnte man hinuntersehen auf das Salzhaff, auf kräftig lärmende Brandung. Im Westen aber war die Insel Poel, die Steilküste von Rande, Jerichow.
    Wie in Jerichow wurden in einem fort Luftalarme gegeben, und Gesine verstand diese Niebuhrs nicht, die sich sicher glaubten, bloß weil die Halbinsel Wustrow nicht Berlin war. Sie stand beim ersten Heulen der Sirenen auf vom Tisch, bereit in den Keller zu laufen, und wenn auch dem Klaus von seinen Eltern das Spotten versagt wurde, sie glaubte sich belächelt. Sie erkannte die Niebuhrs auch nicht recht wieder. Peter tat, als gehe ihm das Du nicht leicht vom Munde. Er betrug sich gegen sie mit einer allgemeinen Höflichkeit, fragte sie bei jedem Plan um ihre Zustimmung, wies zwar Klaus zurecht, nicht aber sie, als habe sie Erwachsenenrechte. Ein übers Gewohnte langer Mensch, der am ganzen Leibe mager geblieben war. Unter den Wangenknochen hatte er so wenig Fleisch, daß seine Lippen geschürzt aussahen, wie von etwas Saurem. Die Augen hinter dunklem Glas. Er machte mit den Kindern Spiele, aber nicht als Spiel wie Alexander Paepcke, ließ sie bald allein, ging seiner Frau nach wo immer er sie fand. Damals wußte ich nicht, daß er seine Unabkömmlichkeit im Ministerium verloren hatte und nach dem Urlaub an die Ostfront sollte. Er hatte Cresspahls Kind eingeladen, weil er da an eine Pflicht glaubte; wäre lieber mit der Familie allein gewesen. Es war das letzte Mal; auch Cresspahl sagte nach dem Krieg, Peter hätte bei der ersten Gelegenheit zu den Sowjets überlaufen wollen.
    So wie Martha Niebuhr in diesem Sommer war, soll sie sich vorher nie gezeigt haben. Wer sie in der Küche überraschte, sah sie weinen. Hinter dem Klaus war sie her auf eine ungeduldige Art. Klaus zeigte mit erstauntem Aufblicken, daß er sie manchmal nicht erkannte, war aber so weit, daß er ihr aus dem Wege ging. Fiel er einmal vor ihren Augen hin, kümmerte er sich nicht um die Schmerzen oder die Wunde, sondern machte sich bereit für den Tadel der Mutter. Sie sieht aber auf Bildern aus anderen Jahren fröhlich aus, zärtlich, mit vorfreudig halb offenen Lippen, ein großäugiges dunkles Mädchen, das seinen Kopf an Peters Arm hält, wo sie ihn nur erwischen kann. Gesine zählte die Tage bis Jerichow.
    Es waren nicht viele. Da mag ein Ausflug mit dem Ruderboot übers Salzhaff gewesen sein, zu den Tessmannsdorfer Tannen. Spaziergänge, vielleicht zum Bastorfer Leuchtturm, zum Diedrichshäger Berg in der Kühlung. Dann kam der Sonntag.
    Der Alarm am Sonntagnachmittag hatte schon drei Stunden gedauert. Alle Erwachsenen waren aus dem Luftschutzkeller ins Freie gestiegen, auch die größeren Kinder, voran Klaus. Gesine blieb neben dem Kind Günter sitzen, geniert, weil sie sich ausschloß, hartnäckig, weil sie Cresspahls Vorschriften folgte. Das Kind Günter schlief, halbnackt, schwer atmend in der Hitze. Gesine blies ihm ab und an übers Gesicht. Es war ein verkniffenes, mühsames Gesicht. Sie war mit dem Kind allein in dem weiträumigen, wohnlichen Keller. Das Haus gehörte der Luftwaffe, und der Schutzraum war nach den Deutschen Industrie-Normen angelegt. Unter die Mitte der Decke war eine Stützmauer gezogen. An den Wänden waren Bunkerbetten befestigt. Von irgend woher murmelte die Stimme des Rundfunksprechers, der die Planquadrate aufsagte, in denen die alliierten Flugzeuge voranwanderten. Vor der Treppe nach draußen war eine in Gummi gefaßte Eisentür,

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