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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahl leiht sich die Titelseite von einem Studenten, der längst die Sportseiten abgrast. Hanoi macht Gespräche abhängig von der Einstellung kriegerischer Handlungen überhaupt.
    Der Junge läßt sich das Blatt zurückgeben, faltet es sorgfältig um den Rest seiner Zeitung, versucht sie auf Kante zu stoßen wie fabrikneu, bietet sie ihr an als Geschenk, alles schweigend, mit einer Miene von Erheiterung, Spott, Mitleid, auch als die Fremde den Kopf schüttelt.
    Sie sind auch eine von denen, Madam. Die fallen auf alles herein, und gleich. Mit denen schaffen wir es nie.

4. April, 1968 Donnerstag
    So bedeckt wie heute morgen über dem Hudson war der Himmel im Sommer vor 24 Jahren über Ribnitz und dem Saaler Bodden, als die Paepckes ihre letzten Ferien anfingen. Diesmal aber standen sie alle vor dem Zug, in dem das Cresspahlsche Kind ankam, Alexander in einer ungewohnten Uniform, doch gleich kenntlich an seinem Vergnügen, dem anschlägigen Gehabe, der gespielten Befehlerei. Nun holte die Vorfreude die echte ein. Alexander sagte: Vel Kinner, vel Segen: sä de Köster. As he den Döpschilling inne Tasch steckt.
    Es mochte zu spät sein für das althäger Boot, da mochte nicht Fahrgelegenheit sein für sechs Leute mit Koffern und Taschen; Alexander führte seinen Anhang schräg über den Bahnhofsplatz zu einem Ambulanzauto, das auf eine gefährliche Weise amtlich aussah. Er sprach die Kinder an wie die Kranken, stopfte sie unduldsam auf das Bahrenbett, darunter daneben, freute sich an ihrem Entsetzen, ihrem Erstaunen, ihrem Entzücken über das neue Abenteuer. Auf der Fischlandstraße fuhr ein Wagen des Städtischen Krankenhauses in einer sehr eiligen Sache nach Norden. Alexander war stolz auf die Gefälligkeit eines alten Freundes aus der Leonia, noch mehr aber darauf, daß ihm ein solches Vehikel eingefallen war. Er sang laut und behaglich mit den Kindern den ganzen Weg, und keines kam auf einen Verdacht.
    Der Abend war sehr lang für die Kinder, aber aus dem Haus ließ Alexander sie nicht. Sie fühlten sich nicht beobachtet; er ließ sie nicht aus den Augen. Gesine sollte von Jerichow erzählen, und er brachte ihr in einer Viertelstunde die Bruchrechnung bei, die die Schule ihr nicht hatte in den Kopf rammen können. Alexandra wurde an den Kleiderschrank geschickt und sollte bei ihrer Rückkehr auftreten als die Königin von Saba. Alexander war am Morgen aus der Sowjetunion angekommen und hatte seine Familie erst auf dem stettiner Bahnhof wiedergesehen. Er fragte Paepcke junior nach seiner Schule aus und unterwies ihn in neuen Tricks beim Abschreiben, »wenn dir das Wasser mal bis zum Hals steht, Jung«. Für Christine führte er vor, wie sie mit zwei Jahren aus einem Becher getrunken hatte. War er voll, hielt sie ihn fest in beiden Händen, den leeren hatte sie achtlos fallen lassen. Christine war nun sieben Jahre alt und sah begeistert an, daß sie als kleines Kind einen Finger vom Becher abgespreizt hatte, auf die vornehme Art, bevor sie ihn als unbrauchbar aufgab, so wie Alexander; sie lachte noch mehr als die anderen, ganz ungekränkt. Alexander war nicht imstande, ein Kind zu kränken. An diesem Abend wurde viel von Vergangenem geredet, auch von Lisbeth. Lisbeths Kind begriff, daß die tote Mutter hier bekannt war als eine in allem erfreuliche Person, schön schon mit acht Jahren, mit Leuten und Tieren freund ihr ganzes Leben, in einer spöttischen Art, die Zärtlichkeit hatte verstecken sollen. Lisbeths Schwester sprach nicht viel, gab Alexander mit halben Sätzen Stichworte, drückte manchmal mit beiden Zeigefingern gegen ihre Nasenwurzel, als müsse sie gegen einen Schmerz angehen. Den Kindern kam sie nur müde vor, und keines ahnte ein Unglück. Vertrauensvoll schliefen Christine und Eberhardt ein, auf Hildes Schoß, mit dem Kopf gegen Alexanders Brust, wurden hinausgetragen, in ein Bett gelegt, vorsichtig geküßt, im Schlaf besehen.
    Am nächsten Morgen beschossen die Küstenbatterien auf dem Hohen Ufer das Meer, und Gesine wartete nach dem ersten dumpfen Wummern darauf, daß Alexanders Stimme durch die Decke dringe und die Großdeutsche Wehrmacht wegen ungebührlichen Benehmens beschimpfe. Aber Alexander war nicht mehr da.
    Der Morgen war fast weiß, mit fransigen Wolkenbooten im Himmel. Der Widerschein des Lichtes im Bodden war ein köstlicher Schmerz in den Augen. Die Wege zwischen den Büdnereien waren warm zugestellt mit den hoch aufgebuschten Knicks. In den Wiesen saßen die Malerinnen wie

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