Jahrestage 2
Schweigeminute.
– Kennen Sie einen Neger, der einen Sitz an der Börse hat?
– Heute abend kommt der Aufstand nach New York.
Dr. King lehnte auf dem Balkongeländer. Er war ausgeruht, herzlich, vorfreudig. Er war für ein Abendessen bei einem Pastor in Memphis angezogen. Sein Fahrer warnte ihn vor der Abendkälte und bat ihn, einen Mantel anzuziehen. Dr. King versprach es. Ein Freund stellte ihm den Musiker vor, der später auf der Versammlung spielen sollte. Dr. King hatte sich das Negerspiritual gewünscht: »Herr du meine Kostbarkeit, führe meine Hand«. Er begrüßte den Mann strahlend, und wiederholte seinen Wunsch. Dann fiel der Schuß.
– Er hat es vorausgesagt.
– Als er nach Memphis flog, mußte das ganze Gepäck abgesucht und das Flugzeug bewacht werden, seinetwegen.
– Gestern abend war er im T. V. noch einmal lebendig zu sehen. Sie zeigten seine Rede vom Mittwochabend. Daß sein Volk das Gelobte Land erreichen wird, womöglich aber nicht mit ihm gleichzeitig.
– Fernsehen müßte abgeschafft werden.
Dr. King stürzte auf den Balkonfußboden nieder. Er war von unten noch zu sehen, weil das Geländer nur aus grüngestrichenen Eisenstäben besteht. Aus der rechten Seite von Kinn und Nacken brach Blut. Die Explosion hatte die Kravatte zerfetzt. Er hatte sich eben vorgebeugt; im Stehen wäre er nicht im Gesicht getroffen worden. Jemand rannte zu dem Liegenden und versuchte das Blut mit einem Handtuch aufzuhalten. Ein anderer versuchte ihn mit einer Decke zu schützen. Dann kam jemand mit einem noch größeren Handtuch. Die Feuerwehr schickte eine Ambulanz erst nach zehn oder fünfzehn Minuten. Mit den blutigen Handtüchern über dem Kopf wurde er auf einer Bahre davongetragen. Er war nur drei Minuten im Freien gewesen.
– Er ist belächelt worden von den Negerführern, weil er die gleichen Rechte ohne Gewalt erreichen wollte.
– Viele haben gehofft, er sei doch im Recht.
– Jetzt müssen sie sich die Gewalt selber glauben.
– Heute abend gibt es weißes Blut auf unseren Straßen.
– Wir sitzen hier wie eingesperrt.
– Bis heute abend können die Neger alle Züge blockieren.
– Kein Weißer wird aus der Stadt kommen.
Das Geräusch des Schusses schien einigen aus einem vorbeifahrenden Wagen zu kommen. Für andere hörte es sich an wie ein Feuerwerkskörper. Ein Mann nebenan hatte vor dem Fernsehgerät gesessen, dem kam es wie eine Bombe vor. Als die etwa fünfzehn Leute auf dem Hof des Motels sich umdrehten in die Schußrichtung, alles Neger und Freunde Dr. Kings, kam Polizei von überall gelaufen, vornehmlich aus der Schußrichtung. Die Polizei trug Gewehre, Flinten, Schutzhelme. Augenblicke vor dem Schuß war ein Funkwagen mit vier Polizisten auf der Straße vorbeigefahren. Erst wurde ein Gebiet von fünf Blocks um das Motel Lorraine abgesperrt. Dann wurden viertausend Nationalgardisten angefordert und ein allgemeines Ausgangsverbot verhängt. Dr. King starb um 19 : 05 (20 : 05) Uhr während der Operation an einer Schußverletzung im Nacken, »einer klaffenden Wunde«.
– Man kann es auch übertreiben.
– Die Fahnen auf halbmast! er war doch nicht Kennedy.
– Die Schwarzen gehören ausgeräuchert, Block nach Block!
– Womöglich waren sie es selbst.
– Mein Friseur muß seit gestern abend eine schwarze Brille tragen, weil ein Neger ihn mit dem Schlagring unters Auge boxte. Dabei ist er Franzose.
– Und was sagt er?
– Er hat einfach die Brille abgenommen und mich angesehen.
– Glauben Sie, daß es wirklich keine Toten in Harlem gab gestern abend? Man will uns nur beruhigen.
– Eine einzige Schlagzeile in der Times, und darunter zur Hälfte andere Nachrichten.
– Man kann es eben auch übertreiben.
Die Polizei hält den Täter für einen weißen Mann in seinen Dreißigern, der zwischen 50 und 100 Meter entfernt in einer Absteige versteckt war. Der Chauffeur Dr. Kings hat einen Mann »mit etwas Weißem auf seinem Gesicht« aus einem Gebüsch auf der anderen Seite der Straße wegkriechen sehen. Die Polizei nimmt an, daß der Fluchtwagen des Täters ein modernes Mustang-Modell war. Einen Block entfernt wurde ein Gewehr vom Kaliber 30.06 gefunden.
– Das ist doch eine gelegte Spur.
– Ob der allein war?
– Glauben Sie, daß Oswald allein war?
– Glauben Sie, daß es wird wie bei Kennedy?
– Sie mögen den Täter finden, nicht die Auftraggeber.
Nachdem Dr. King für tot erklärt worden war, berieten sich seine
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