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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Stadt ansahen. Wir haben nichts gesehen. Die Bahnstrecke, auf der Cresspahls Kind zum Fischland kam, passierte Rövershagen. In Rövershagen war ein Konzentrationslager, dessen Häftlinge für die Ernst Heinkel Flugzeugwerke A. G. arbeiten mußten. Heute weiß ich es.
    Alexanders Verwandtschaft hatte einander verständigt, daß Hilde in diesem Sommer nicht allein bleiben sollte, und reiste zu Wochen und Wochenenden an, Großonkel, Tanten, würdige alte Personen, eher wie zu Begräbnis als zu Ferien gekleidet. Die Kinder merkten nicht, daß im Hause besorgte Beratungen abgehalten wurden; die Kinder machten ein Spiel mit den Erwachsenen. Sie eröffneten einen Blumenladen in der Veranda, verkauften eine Butterblume für einen Pfennig, ein Gänseblümchen für zwei Pfennige, und die Herrschaften standen Schlange zu sechs, zu acht, bis in das Eßzimmer hinein. Es war ein lang eingeübter Ton unter den Besuchern, förmlich und vertraulich in einem, da jeder von jedem die Familie bis zum Urgroßvater und zum fünfzigsten Jubiläum eines Kinderstreichs auswendig wußte. Es war ein Mantel aus dicht verwobenen gegenseitigen Kenntnissen, unter dem eine Person weniger auffiel als ihre Zugehörigkeit, ihre Verträglichkeit mit den anderen. Den Vorsitz der Beratungen hatte Alexanders Tante Françoise übernommen, obwohl sie ihm den Ausschluß aus der mecklenburgischen Anwaltskammer nie hatte verzeihen wollen. Sie war streng, unnachsichtig, schwarz und weiß noch in heißem Wetter gekleidet; sie war die erste, auf die Einfälle der Kinder einzugehen. Die Kinder sollten nichts merken.
    Die Geschenke, die Alexander den Kindern hinterlassen hatte, waren weiße Regenmäntel aus der Sowjetunion, mit einem gummiähnlichem Stoff beschichtet. Sie fühlten sich ungetragen an, rochen fabrikneu, aber in den Taschen waren Sonnenblumenkerne. Wenn Alexander von den wieder besetzten baltischen Ländern erzählt hatte, war es wunderlich erschienen, daß auch dort die Ostsee war, in so dichten kräftigen Wäldern. Die Ostsee war da wie eine glänzende Schlange im Wald.
    Aus der Zeit nach dem Krieg weiß ich: Alexander hatte in der Organisation Todt Zivilpersonen zur Arbeit einweisen müssen, die die S. S. ihm aus der sowjetischen Bevölkerung zuführte. In einem Fall hatte er sich ein wenig gegen die Annahme eines Trupps von fünfzig Juden gewehrt, weil darunter Kinder waren. Er war ohne Verfahren davongekommen; die Armee hatte ihn zurückgenommen und auf einen Unteroffizierslehrgang geschickt. Mehr war nicht zu tun gewesen. Inzwischen ließ der Krieg nicht mehr mit sich reden. Alle Beziehungen der Familie Paepcke richteten nichts aus, nicht über die mecklenburgische Burschenschaft Leonia, nicht über Offiziere aus der alten Reichswehr, nicht über die Heeresintendantur Stettin. Es war unbegreiflich, daß die Familie nicht imstande war, ihn an eine ungefährliche Stelle zu holen.
    In Althagen gab es ein Spiel, da setzte sich Alexandra Paepcke auf die eine Seite des Drehkreuzes im Grenzzaun, Gesine auf die andere, beide drehten sich und sangen: Jetzt bin ich in Pommern! Jetzt bin ich in Mecklenburg!
    Das Drehkreuz, die Ferien weiß die Erinnerung von diesem Sommer. Er war nicht so.

5. April, 1968 Freitag
    Es tut mir leid, daß sie ihn erschossen haben.
    Es tut Ihnen nicht leid, Mrs. Cresspahl, madam.
    Wir leben in diesem Haus zusammen seit sechs Jahren, Bill.
    Martin Luther King war ein schwarzer Mann, wie ich. Sie gehören zu den Weißen.
    Gestern abend wurde Martin Luther King in Memphis erschossen. Es war gegen achtzehn Uhr, neunzehn Uhr New Yorker Zeit. Er hatte den ganzen Tag in seinem Zimmer im Motel Lorraine verbracht. Er hatte es ausgesucht, weil es Negern gehört. Er war nach Memphis gekommen, um den Müllarbeitern zu helfen, die seit dem Geburtstag Lincolns streiken, seit dem 12. Februar. Vor einer Woche hat er einen Marsch der Streikenden angeführt, der mit Gewalttätigkeiten endete; am Mittwoch war die letzte Versammlung gewesen. Gegen achtzehn Uhr kam er aus seinem Zimmer auf den Balkon und unterhielt sich mit Freunden, die im Hof standen.
     
    – Sie müssen das nicht glauben von unserem Land, Mrs. Cresspahl. Es ist nicht so.
    – Genau so, und schlimmer.
    – Einen Träger des Nobelpreises, den erschießen wir hierzulande, er muß nur ein Neger sein und das Bürgerrecht für Neger verlangen.
    – Beide Börsen haben mit Trauer über die Nachricht eröffnet, die nationale und die new yorker. Und um 11 gibt es noch eine

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