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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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gesehen, uns befragt.
    Und die Cresspahlsche Wohnung ist besetzt, mit einer Menge Familie, der sie auch ohne uns zu klein wäre. Marie hat entschieden, daß wir mit Annie Fleury und ihren Kindern genug befreundet sind, um mit ihnen zusammen zu leben, so wie sie gekommen sind aus dem Blauen, aus dem hohen Norden, aus Vermont, vom Windhundbus. Marie am Telefon hat ihnen den Ubahnweg vom Busbahnhof zu unserer 96. Straße so sorgfältig erklärt, sie waren nicht viel früher angekommen als die Bank schließt, und waren längst da, die drei Kinder alle in Maries Zimmer hinter geschlossenen Türen, Annie auf dem Sofa, verschüchtert wie ein ungebetener Gast, der sich rasch aufrichtet und nun gleich ins Hotel gehen wird. Du wirst doch nicht von uns weg ins Marseille ausreißen, Annie. Du bist so fahrig, Annie, warum stellst du deine Knie so streng aneinander, was soll das, daß du dich so unbequem vornüber hältst und deine Hände durchknetest! Wenn dir nicht zum Lachen ist, wir bringen dich nicht dazu. Es wäre uns lieber, du wärst gekommen wie früher, daß dir deine Farben von Wind und Wald was nützten, daß dir die Bauernmädchenstirn glatt wäre, daß dir der Spaß aus den Augen schlägt; nun nehmen wir dich, wie du hast kommen können. Sieh nicht umher, als wär dir nicht zu helfen. Dir ist zu helfen; wir holen Mr. Robinson in seinem Fahrstuhl, Mr. Robinson holt Bettgestelle aus seinem unerschöpflichen Lager im Keller, wir holen den Koffer vom Eingang dahin, wo du schlafen wirst.
    Du bist jetzt hier, Annie.
    Weil ich sonst Niemand wußte, auf den Verlaß ist, Gesine.
    Auf nicht einen deiner Nachläufer von vor nur fünf Jahren, nur weil einer von ihnen jetzt etwas Besänftigendes zu den Nachrichten zu sagen hat und ein anderer immer noch dich aufnehmen würde in eine Dienstwohnung des Finnischen Konsulats? Nicht auf F. F. Fleury, der mit dir leben wollte wie zu den Zeiten Thoreaus? Das wird ihn hart ankommen, allein zu sitzen in einem knackenden Haus im Schnee an den Bergen, alleingelassen von einer Annie, die länger als vier Jahre an der Herstellung eines Lebens auf dem Lande gearbeitet hat, mit drei Kindern und ehrwürdig splittrigen Dielen, die seine Schreibkraft war, seine Sekretärin und die Bewunderin seines Genies als Übersetzer des Französischen, die endlich weggelaufen ist am frühen Morgen, drei Kinder an der Hand, zur Busstation von Plymouth Union. Wie wollen wir es nun anfangen, Annie? mit Tränen, mit Gütertrennung, mit Raufen in den Haaren? wir wollen also gar nichts anfangen. Wir können wohl zugeben, daß ein Unglück auf dem Tisch liegt, und es wo möglich ein wenig teilen; nicht vor den Kindern. Wir und Mr. Robinson, wir holen dir aus seinem Versteck einen Fernsehapparat für die Kinder, für Frederic F. junior, für das Apfelkind Annina; auch für Francis R. mit seinen zweieinhalb Jahren? wenn sie anders nicht zufrieden sind. Wir werden es vor den Kindern verstecken, daß du keinen Ausflug machst. Auch dich sollen wir verstecken? Am Telefon nicht sagen wo du bist? Glad to please you, Annie. Du bist nicht da. Nein. Du bist nicht da.
    Weil ich wußte, du wirst mich nicht drängen.
    Was du erzählst, Annie, so besinn dich doch. Du bist in New York, rechts von dir laufen Schiffe, links von dir verkehrt die Ubahn, Linie 1, 2 und 3, hinter dir schlafen deine Kinder die Reise aus, sie schlafen wie Fracht, vor dir sitzt Marie, ein Kind von noch nicht elf Jahren, und sie soll es hören? Erzähl es ihr und mir, wenn du es für Lernstoff hältst. Marie soll also hören, daß Annie Killainen aus einer Ehe mit F. F. Fleury weglaufen will wegen Viet Nam? Wegen Viet Nam. Und beide über fünfundzwanzig Jahre alt, und spielen jeder sein Programm durch, er die Theorie vom Domino, von der Habsucht Chinas, von der Ehre der U. S. in Südostasien, von der Weiterführung des französischen Erbes in Viet Nam, von der Freiheit des Menschen und dem Frieden in der Welt; du mit dem siebten Gebot, dem Gebot betreffs der fremden Märkte, mit der Ehre der U. S., mit der Selbstbestimmung auch kleiner Völker, mit der Freiheit des Menschen und dem Frieden in der Welt. Wie habt ihr das gemacht? auch beim Frühstück? Wann immer die Kinder nicht dabei waren. Das ist zu oft. Oder in französischer Sprache. Annie, so war das mal vor vierzig Jahren in Mecklenburg, ihr könnt doch dahin nicht zurückgehen! Und nun will F. F. keine Frau, die Entschließungen gegen den Krieg unterschreibt, die Mitglied ist in Vereinen gegen

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