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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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verantwortlich dafür: Cresspahl, mein Vater. »Schuld an den Russen« hieß das Urteil über ihn, und betraf nicht nur die Klagen über die Fremden. So erholsam ließ es sich aussprechen, als seien sie ohne Cresspahl gar nicht erst gekommen.
    Angefangen hatte es mit der Gefangensetzung von Käthe Klupsch. Das hatte nicht Cresspahl getan. Die Briten, solange sie blieben, hatten Strafen angedroht für das Verbreiten des Gerüchts, sie würden Jerichow räumen für die Waffenbrüder aus dem Osten. Käthe Klupsch, so wenig sie solche Zukunft für möglich hielt, konnte doch nicht lassen von dem wohltätigen Schauder, den sie von der verbotenen Voraussage bekam, an einem hellen Junitag, auf dem drangvollen Gehsteig vor Schlachter Kleins leerem Schaufenster. Käthe Klupsch hatte zwischen zwei Tommies auf das Rathaus gehen müssen. Die Soldaten hüteten sich wohl, der beleibten Dame mit dem schwer bewegten Busen nahe zu kommen, und für sie war es »körperliche Gewalt« gewesen. Die vier Stunden Wartens vor Cresspahls Amtszimmer hatte sie empfunden als »zynische Zermürbung«; sie hatte nur den Mund nicht auftun dürfen. Danach war die Feststellung des Sachverhalts ihr zu einer »seelischen Marter« geraten, zu »Gehirnwäsche« obendrein, weil Cresspahl ihr die Fragen seines britischen Besuchers verdolmetschen mußte. Weil sie zugab, des Lesens mächtig zu sein, auch von öffentlichen Befehlen in Maschinenschrift, wurde sie verwarnt, und weil Cresspahl in jener Nacht nicht Zeit hatte für einen Sonderpassierschein, behielten die Briten sie in einer Zelle unter dem Rathaus, bis das Ausgangsverbot zu Ende war. Käthe Klupsch glaubte sich nun »bis sechs Uhr morgens mit Cresspahl allein in einem Haus gewesen« und verwechselte sich wohl auch ein wenig mit zwei Flüchtlingen, die wegen des gleichen Delikts in Rande hatten sitzen müssen, bis die Sowjets sie als Strafgefangene übernahmen. So redete die Klupsch, bis die Sowjets einrückten, und danach beschuldigte sie Cresspahl nur noch des heimlichen Bündnisses mit ihnen. Denn sie waren am Ende doch gekommen, nich? Dafür sei man nun als unbescholtene Frau ein politischer Häftling gewesen, nich?
    Cresspahl war schuld an den Russen.
    Nein. So hatte es nicht angefangen.
    Die Briten hatten Cresspahl zum Bürgermeister von Jerichow bestellt. Mochten sie ihn für einen anderen Deutschen angesehen haben, einen Verräter demnach, sie hatten ihm doch vertraut, fast wie einem Freund. Die Abgesandten der britischen Abwehr hatten dabei nichts gefunden, gegrüßt hatten sie ihn zum Abschied! auf militärische Weise obendrein. Sogar Amerikaner waren aus ihrer schweriner Gegend angekommen und hatten Nächte verbracht in Cresspahls Büro, und wenn sie ihn etwa auf westliche Zuverlässigkeit verhört hatten, es war ohne Trinken und Sprüche dazu nicht abgegangen. Dann waren die Sowjets nachgerückt und ließen Cresspahl Bürgermeister bleiben. Das war ihre Kriegslist, sie wollten den Streit verstecken, den sie heimlich mit den angelsächsischen Alliierten unterhielten. Jedoch sie hatten Cresspahl nicht etwa übernommen, und von Bestätigung im Amt war auch keine Rede. Sie hatten ihn eingesetzt. Das Wort Einsatz hatte unter dem Hakenkreuz für etwas Unregelmäßiges gestanden, für Not am Mann, für Lückenbüßer, für Anstrengung über die Ordnung hinaus, ob es nun der Ernte-Einsatz gewesen war oder der Einsatz versprengter Truppen oder die Einsetzung von Beamten, die Einer nicht gewählt hatte, die gar nicht erst vorher hatten gefragt werden müssen. Nun hatte Cresspahl noch einmal die Briten verraten und am Rathaus anschlagen lassen, er sei auf Befehl des sowjetischen Kommandanten ein Handlanger der Russen, ein Gerät in ihren Händen, nämlich eingesetzt.
    Es war das XVIII . Luftlandekorps der U. S. A. gewesen, und in seiner Vertretung die 6. Luftlandedivision unter B. L. Montgomery; nunmehr waren die verlorenen Befehlsgewalten vom Mai und Juni recht geläufig geworden in Jerichow. Kaum waren sie davon, diente Cresspahl dem Ortskommandanten K. A. Pontij, den Russen.
    Cresspahl hatte den Russen zum achten Teil des Stadtgebiets von Jerichow verholfen. Es war ja nicht bei ihrem Zaun um die Ziegeleivilla geblieben. Am vierten Tag nach ihrem Einmarsch erwies sich, warum sie auf der westlichen Seite nur ein paar Stränge Stacheldraht durch die Goldregensträucher geflochten hatten. Morgens waren acht arbeitsfähige Männer zu Cresspahl aufs Rathaus bestellt, nicht etwa durch Befehl,

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