Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Kapitel 1
James atmete tief ein. Warme, salzige Luft strömte in seine Lungen. Aus den Schiffslautsprechern dröhnte »Rule Britannia«. Er blickte zu Sheila, die neben ihm an der Reling stand und beobachtete, wie die Victory langsam ablegte. Sie lächelte. »Einen Sixpence für Ihre Gedanken, James.«
Er zeigte auf die großen Trichterboxen. »Ich bitte Sie, Sheila, wer kommt denn nur auf die Idee, ›Rule Britannia‹ beim Ablegen zu spielen!«
Sie strich sich die rotbraunen Locken aus dem Gesicht. »Wieso, das ist wie in der guten alten Zeit. Das Schiff legt ab, die Passagiere stehen an Deck, sie sehen einer aufregenden, ungewissen Zukunft entgegen, an Land flattert ein Meer von weißen Taschentüchern im Wind, und die Blaskapelle übertönt die Abschiedsrufe und das Schluchzen.«
»Nur dass in unserem Fall die Musik nicht von einer Kapelle kommt, sondern aus den Lautsprechern scheppert. Und wir nicht auf der Titanic stehen und in die Neue Welt aufbrechen, sondern nur träge auf dem Mittelmeer kreuzen und in einer Woche wohlbehalten wieder hier anlegen.« Er deutete auf die Traube weißer und grauer Köpfe neben ihnen. »Es sei denn, der eine oder andere geht vorzeitig von Bord. Der Altersdurchschnitt hier dürfte fast dem von Eaglehurst entsprechen.«
Sheila warf ihm über ihre Sonnenbrille hinweg einen kurzen Blick zu, und er bereute die Anspielung auf das Altenheim, in dem Sheila und er sich vor einem knappen halben Jahr einquartiert hatten, um den Mord an James’ Freund William aufzuklären. Doch Sheila ließ sich die blendende Laune nicht verderben. »Ach, entspannen Sie sich, James. Der Urlaub wird uns guttun, und es ist doch nett, zwischen all den weißen Köpfen hier kommt man sich fast schon jung vor!«
Er war froh, dass sie seine Bemerkung nicht auf ihre betagte Mutter bezogen hatte. Sheilas Mutter war nämlich der Grund, warum sie hier waren. James hatte die alte Dame erst vor zwei Monaten kennengelernt, als er Sheila ein Buch zurückbrachte, das sie ihm geliehen hatte. Als er Sheilas Wintergarten betrat, stand da ein elektrischer Rollstuhl vor dem Orchideenfenster, und darin saß sie: eine kleine, drahtige Gestalt, deren Hände und Füße im Verhältnis zu den dünnen Armen und Beinen übergroß erschienen. Das perfekt geliftete Gesicht war von kunstvoll frisierten, hellblond gefärbten Haaren umrahmt. Sie hatte ihn mit der Geste der Gastgeberin aufgefordert, Platz zu nehmen, ihr Gesicht beim Lächeln in zarte Falten gelegt und gesagt: »Meine Tochter hat mir immer viel von Ihnen erzählt, Mr Gerald. Schon zu der Zeit, als Sie beide noch beim SIS waren. Deshalb habe ich das Gefühl, Sie schon eine Ewigkeit zu kennen. Es freut mich sehr, Sie endlich einmal persönlich zu treffen. Ich darf doch James zu Ihnen sagen?«
»Natürlich«, hatte er höflich geantwortet und ihr gegenüber Platz genommen, während Sheila, sonst das Selbstbewusstsein in Person, ihm eine Tasse Kaffee einschenkteund wie ein Kind wirkte, das nicht ungefragt dazwischenredet, wenn die Erwachsenen sich unterhalten.
»Ich bin Phyllis Barnes«, sagte Sheilas Mutter, »aber das wissen Sie sicher, James. Meine Tochter wird Ihnen von mir erzählt haben.«
»Ja«, log James und fing einen dankbaren Blick von Sheila auf. Sie hatte früher, als sie beide noch Kollegen gewesen waren, nie über ihr Privatleben gesprochen. Erst vor einigen Monaten hatte sie ihre Mutter zum ersten Mal erwähnt, und jetzt war er eigenartig berührt, der fast Neunzigjährigen, die ihn mit wachen Augen musterte, gegenüberzusitzen. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie in jungen Jahren ausgesehen hatte. Vermutlich sehr attraktiv – dazu brauchte er nur von der Tochter auf die Mutter zu schließen. Außerdem strahlte die alte Dame das natürliche Selbstbewusstsein einer Frau aus, die es gewohnt ist, im Mittelpunkt zu stehen.
Phyllis wies auf das Tablett mit Sandwiches. »Greifen Sie zu, James. Sheila war so lieb, meine Lieblingssandwiches zuzubereiten, Thunfisch mit Marmite und Piccalilli. Das Rezept stammt noch von meiner Kinderfrau.« Als sie in das Sandwich biss, bemerkte James, dass ihre schön geformten Zähne beinahe genau dieselbe Farbe wie das ungeröstete Weizentoastbrot hatten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es die Dritten waren, allein Phyllis’ hohes Alter machte diese Annahme zwingend. Sie musste einen guten Zahnarzt haben, denn bei den meisten Gebissträgern, die er kannte, waren entweder Farbe oder Form verräterisch. Phyllis
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