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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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daß Frau Quades Zurückhaltung beim Berichten ihren Nachbarn genügte für noch eine Cresspahlsche Schuld.
    Aber mittlerweile hatte Cresspahl den Befehl Nr. 2 des Militärkommandanten der Stadt Jerichow aushängen müssen, und die Bürger sollten ihre Radios, Akkumulatoren, Schreibmaschinen, Telefongeräte, Mikrofone, Fotoapparate »usw«. binnen drei Tagen in Papenbrocks Speicher abliefern. »Usw.« wurde von Cresspahl über Nacht aufgeklärt als Waffen, Sprengstoffvorräte, Geschütze, Geschosse aller Art, und einen Tag später wollte K. A. Pontijs Befehl Nummer 4 auch noch alle Münzen und Barren aus Gold und Silber und Platin, alle ausländischen Werte in die Raiffeisenkasse gebracht haben, auch bloße Dokumente von ausländischem Vermögen, und Cresspahl galt wiederum als Komplize der Sowjets. Denn sie sahen ihn morgens aufs Rathaus zugehen mit seinem Telefon unterm Arm, einmal auch mit zwei Wehrmachtkarabinern, die Einer ihm nachts aufs Grundstück geworfen hatte, aber die Sammlung von Volksempfängern oder »usw.« in Papenbrocks Speicher wurde nicht recht umfänglich. Dann bewies Cresspahl seinen Mitbürgern abermals, daß er nicht ohne Nutzen zwölf Jahre unter ihnen gelebt hatte, und schlug am Rathaus einen Hinweis auf die Liste an, die in der Post die ehemaligen Besitzer von Radio und Telefon verzeichne. Von denen kamen einige, aber sie wollten dem Russenfreund Cresspahl die Geräte vor die Füße schmeißen, und mußten lange warten am Speichertor, weil der Bürgermeister alle zwei Stunden sein Kommen ansagen ließ, und nicht kam. Schließlich drohte die Kommandantur den Hausbesitzern die Haftung an für alles Sequestriergut, das unter ihrem Dach gefunden würde, und nun trieben die Einheimischen die Flüchtlinge zum Abliefern, und was sie nicht vergraben hatten, verbrannten sie, darunter die echten russischen Rubel der Kriegsgefangenen, die sie gespart hatten für Geschäfte nach der Rückkehr der britischen Besatzung (oder nach dem Einzug der schwedischen). Immerhin, sie konnten dann Cresspahl immer noch haftbar machen für den Verlust; seine Schuld ließ sich an Hand von Quittungen beweisen.
    Wie ehrvergessen Cresspahl im Solde der Sowjets stand, es zeigte sich für Jerichow in seinem Verhalten gegen die Papenbrocks. Seinen eigenen Schwiegereltern schickte er immer neue Obdachlose ins Haus, so daß sie auf ihre alten Tage im Comptoir kampieren mußten. Er hatte nichts dagegen getan, daß die Rote Armee den Papenbrocks die Lassewitzschen Möbel aus dem Haus trugen, sie auf offenem Markt mit Lysol besprühen und dann abfahren ließen zur Kommandantur. Papenbrocks Hof und Speicher waren beschlagnahmt, mit allem Korn darin, waren Vorratslager der Roten Armee, und Cresspahl vermochte weiter zu leben, nachdem er seine Verwandtschaft um ihr Vermögen gebracht hatte. Und wenn er neunzig Jahre alt werden sollte, wie konnte er solche Schuld jemals abtragen?
    Die Sowjets selber, sie hielten nichts von ihm. Die Briten hatten ihn von Morgen bis Abend umherfahren lassen in einem Jeep; die Sowjets ließen ihn zu Fuß gehen, vom Ziegeleiweg zum Rathaus, vom Krankenhaus zum Gaswerk, von einem Ende Jerichows zum anderen, und nämlich ohne Begleitung, schutzlos, allein.

    – Aber jetzt spuckten sie ihn nicht mehr an: sagt Marie.
    – Nein. Nicht einmal, daß sie ihm etwas nachgerufen hätten.
    – Sie zeigten es dem Kind Gesine.
    – Es war ja für meinen Vater, und es machte dem Kind Gesine nichts aus.
    – Wenn du zum Einkaufen geschickt wurdest –
    – Ja.
    – und sie drängten dich ab aus der Schlange. Sie traten dich versehentlich. Es gab Eltern, die verboten ihren Kindern, mit dir –
    – Das war es nicht, Marie.
    – Sie sahen dich nicht.
    – Sie sahen mich nicht.
    – Jetzt soll ich an Francine denken, an ein schwarzes Kind in einer weißhäutigen Schule, und wenn sie morgens ankommt und grüßt –
    – Vergleich es nicht. Das Kind das ich war –
    – Schon gut, Gesine. I dig you. Du wolltest mir was erzählen, nicht aber etwas beibringen. Und doch denk ich mir was.
    – Nicht den Vergleich.
    – Aber was ich will.
    – Was du willst, Marie.

    Wir sind spät in den Abend gekommen, und schwerer Regen hat Fluß und Land hinter dem Park mit flappigen grauen Decken aus Dunst verhängt. Dahinter geht die Welt nicht weiter.
    25. April, 1968 Donnerstag
    Der neue Ministerpräsident der Č. S. S. R. hat seine Tschechen und Slowaken gelobt für gute Arbeit seit 1948, wie es sich gehört für den Anfang eines

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