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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Programms, und dann beschrieb Herr Černík ihnen, was aus der guten Arbeit gemacht wurde: das Nationaleinkommen pro Kopf liegt bis zu vierzig vom Hundert unter dem »fortgeschrittener westlicher Länder«, die Auslieferung der Produkte an den Verbraucher dauert um das Dreifache länger, Verkehrsmittel wie Behausung wie Einzelhandel sind ähnlich kaputt, und wahrhaftig erwähnt er das Defizit von $ 400 000 000 im Außenhandel mit den kapitalistischen Ländern als zwar unerheblich aber »sehr unangenehm und unbequem«, wegen der kurzfristigen Darlehen nämlich. All das hat die Angestellte Cresspahl seit Dezember für die Akten der Bank berechnet und beschrieben, sie ist dem Unternehmen von Nutzen gewesen und muß nicht gleich Entlassung fürchten, wenn sie mitten aus der Arbeit in die Etage der Chefs beordert wird, und kann ohne viel Sorge hinabblicken auf zwei Ausschnitte von Dritter und Lexington Avenue, wo die Menschen nicht nur kleinschattig, schon verzerrt erscheinen in ihrer Tiefe.
    Vor zwölf Jahren war die Bank nicht hier, und sie hätte sich eher bänglich befaßt mit einer so kleinen Sache wie 400 Millionen Dollar. Und eine weibliche Person als Assistenz eines Vizepräsidenten, es war undenkbar.
    Es war eine Familienbank, nicht nur nach dem Eigentum, auch in ihren Geschäften, und in ihrem Namen zeigt sie noch die Anfänge, als sie in kleinen Städten des Mittelwestens Getreide auf dem Halm belieh, den Sheriff bestach und für ein Manneswort so gut war wie für eine verschriebene Schuld. Der Name, der ländliche, schmeckend nach Altvorderen und Kindestreue, er ist geblieben.
    Es gibt eine Fotografie, in der bräunlichen Ausführlichkeit der Zeit um 1880, die eine dörfliche Zweigstelle im nördlichen Carolina abbilden soll: vor dem Schaufenster mit seiner Girlande aus goldenen Buchstaben stehen bratenberockt der Friedensrichter im Gespräch mit Schmied und Kaufmann, und in der Ladentür lehnt der Geschäftsführer, einem Kirchgang gemäß gekleidet, die Augen so treuherzig wie verrechnet unter dem Hut, und wahrhaftig sind alle Darsteller durchgestrichen von einem hölzernen Balken, an denen damals noch wahrhaftige Kuhjungen ihre Pferde anbanden. Das Bild will nicht stehenbleiben in der Sekunde, für die der Fotograf vor neunzig Jahren das Atmen verbot, die Szene will weiter, zu der rasselnd herbeikarriolenden Postkutsche, vorn drauf der Beifahrer durchs Auge geschossen, die Pferde selbstbewußt und frech, aus den angrenzenden Häusern stürzen die Bürger an, aus den oberen Fenstern des Hotels blicken die Damen herab, und brutal aufgestemmt hängt die Geldkiste am letzten Riemen, und ein Schuß löst sich in die Luft, und es werden neue Pferde zusammengeführt für die Jagd nach den Räubern, und werden es Banditen sein, oder Indianer? bis mit überlautem Echo das Bild ausläuft ins Leere und in das Schild im Eingang der Bankstelle: Wegen Trauerfalls geschlossen.
    Nicht wenige im Hause wollen gewiß sein, daß die Fotografie nachgetönt sei und nichts weiter zeige als die Kulissen eines Westernfilms. Einige wollen ihn gesehen haben und schwören auf die Ähnlichkeit der Szene. Wer ihnen aber das Gegenteil anbietet, nämlich die Abstammung des Drehorts von diesem Foto, er macht sich der Ausländerei verdächtig, des Höhnens geradezu, und Mrs. Cresspahl sagt es nicht mehr.
    Um die Jahrhundertwende schaffte es die Bank nach Chicago, ein Palästchen noch im Innern der Schleife nannte sie ihr eigen, schmal aber edel in der Brust, und nach 1945 war sie fast wohlhabend. So aber dachte auch die führende Familie, wollte das Erworbene festhalten und dennoch vermehren, der Kuchen sollte in der Speisekammer bleiben und doch gefressen werden, wie so Bären das Leben betrachten. Deswegen glaubte der Familienrat dem Gerücht von 1947, das Sterben und baldigen Tod der Stadt New York verbreitete, und hielt sich sittsam fern von der verrufenen Gegend, in der die Menschen gefressen werden wie das Geld. 1951 kamen sie zu spät. Sie wollten in die standesgemäße Gegend, und sie fanden einen Kasten fünfhundert Schritt von der Ubahnstation Wall Street, den mochten sie behängen mit Marmor und beschriften mit Gold, er wurde geringfügiger davon. Und nicht nur das Aussehen wollte nicht wachsen. Sie hatten die Währungskonferenz von Bretton Woods verpaßt, sie fielen nicht eben mit Tapferkeit auf an der Börse, und bei dem Namen Tschad hätten sie womöglich auf ein Putzmittel geraten. Die Zentrale war am Michigan-See geblieben,

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