Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Genossen Bescheid sagen, aus Christenpflicht auch den Liberalen, denn denen hatte die S. M. A. wiederum keine Kandidatenliste genehmigt. Sogar Alfred Bienmüller erfuhr binnen einer Stunde, daß ein Fremder angekommen war, Auto mit Chauffeur und Ledermantel hinterm Güterschuppen abgestellt.
Der Redner dieses Abends schritt vorläufig die Stadtstraße hinunter, gemächlich, wie einer, der möchte sich in der Fremde mit einem Einkauf eine Freude machen, es muß aber nichts Bestimmtes sein. Hier konnte nie vorkommen, was er im geheimen besorgte. Überdies war der Gegenstand der Furcht ihm nicht bekannt, also die Empfindung als solche unwissenschaftlich. Hier war der Bürgermeister von seiner eigenen Partei, die beiden Beiräte allerdings christlich-demokratisch; demnach hatte die Stadt zwar in den letzten Wochen nicht die vollen Zuteilungen auf die Lebensmittelkarten bekommen, gewiß aber fast die Hälfte des Gedruckten. Das würde schon helfen. Auch hatten die Freunde ein Element der bürgerlichen Demokratie benutzt, wonach ein französischer Konservativer politische Feinde amnestiert oder ein deutscher Sozialdemokrat der Tochter eines Kriegsverbrechers Blumen schickt, beide nun rechter Stimmen gewiß; nur eben in der dialektischen Umkehrung: keine Blumen, statt Amnestie Festnahme. So witzig hatte Gerd Schumann die Redereien dieses Ottje Stoffregen auf Dauer nicht finden können; der schraubte an diesem Tage Schienen der Strecke Gneez-Herrnburg ab und trug sie mit seinen feinen Lehrershänden zum Abtransport in die Sowjetunion. Auch war gewiß mit Papier nicht gespart; an fast jedem Schaufenster, jedem Hoftor klebte ein Zettel ausreichender Größe.
Als er den ersten las, war er sicher, daß seine Sorgen angetreten waren, Meldung machten, zur Stelle. Ein verwünschtes Kaff, dieses Jerichow. Hätte er nur nie einen Fuß hierher gesetzt.
Die Zettel riefen zur abendlichen Wahlkundgebung auf und waren unterzeichnet von Alfred Bienmüller im Namen der S. E. D. Der Text begann mit einer Personenbeschreibung: Gerd Schumann, Angehöriger der Deutschen Wehrmacht, nach Überlaufen zur Roten Armee im Nationalkomitee Freies Deutschland, 23 Jahre alt, Landrat. Es waren unzählige Zettel, einer wie der andere. An der Ziegelei kehrte er um, da steht der Stadtstraße zum ersten Mal ihr Name angeschrieben, eine Tafel an der Friedhofsmauer. Es war gewiß die Hauptstraße, sie trug nicht den Namen des Generalissimus Jossif Wissarionowitsch Stalin. Es war ein altmodisches Schild, mit Zierlinien um die Fraktur, die Schrift weiß in blau, überall so heil und appetitlich, als hätte es ein paar Jahre lang unter Wolle in einer Kommode gelegen.
Der Redner des Abends beeilte sich auf dem Rückweg zum Marktplatz. Der hieß Marktplatz.
Da stand er gerade recht, die Stelle erlaubt einen fast vollständigen Blick auf die Fassade des Bahnhofs (»an dem müssen die meisten Jerichower einmal am Tag vorbei«). Er konnte seinen Chauffeur auf den Stufen sehen, der schlug sich die Arme warm mitten unter dem Bettlaken, auf dem mit schwarzer Farbe gemalt stand:
FÜR SOFORTIGEN ANSCHLUSS AN DIE SOWJETUNION!
WÄHLT DIE SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI (S. E. D.) ,
nun gerade nicht in Mittelachse.
Mit Bienmüller bekam er Streit nach den ersten Sätzen. Er war es, als Landrat, gewöhnt, in die gute Stube gebeten zu werden, zu einem Imbiß, einem Schluck. Er kannte es, als Genosse und Wahlkampfleiter, nicht anders, als daß man mit ihm einig war. Dieser Bienmüller ging nicht weg von seinem matschigen Werkstatthof, ließ eine Lastwagenwinde in seiner linken Hand hängen, als wöge die nichts, behielt auch den Filzhut auf, so daß von seinem Gesicht wenig nachweisbar wurde, bückte sich wahrhaftig schon wieder zu seiner Arbeit.
– Das ist eine Provokation da am Bahnhof! Das ist schlimmer als in Gneez, da haben sie Postkarten verschickt mit solchen Sachen wie »Ihntelljenz, wählt SED ! Für Gebildete: ABER , Lateinisch«!
– Ach.
– Du willst ein Genosse sein!
– Min Jünging, wistu dat nich? Wistu denn nich tau de Soowjetunioon?
– Ich verlange, daß wir die Sache gemeinsam mit dem Kommandanten klären!
– Wi hem nich een. Wi hem twei.
– Du wirst da deine Plakate mal erklären, mein Lieber.
– Doe döerf ick gar nich hen åhn dissn Dschiep. Dat isn Besatzungsbefæl.
– Du, Genosse, du bleibst hier nicht lange Bürgermeister!
– Nee, gewiß nich. Ick bün de Dürd all.
Der Redner des Abends wurde auf dem Eilmarsch zur
Weitere Kostenlose Bücher