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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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Kommandantur noch einmal angehalten von dem Schild an Peter Wulffs Laden. Der Name war ihm ungefähr vertraut, dessen Karteiblatt hatte er sich einmal beschaffen lassen aus den Listen der alten S. P. D. in Gneez. Mitglied bis zum Verbot von 1933, Kurierdienste, Illegales (eigene Initiative), inhaftiert während des Mussolinibesuchs in Mecklenburg (Bützow-Dreibergen), von 1939 auf 1940 (Sachsenhausen), wehrunwürdig, noch nicht vereinigt. Wahrscheinlich Schlamperei in der Buchung. Das war ein Mann nahe den Sechzig, groß aber krumm, als sei er eher Säckeschlepper denn Gastwirt, weißlich im Gesicht, immer noch blond. Im Schatten des Flurs sah er bloß massig aus, weich, draußen unverhofft erwies er sich als kräftig, viel mehr Draufgänger als Bienmüller. Tatsächlich hatte Peter Wulff sofort einen Spaten vom Haken gegriffen und ging in den Garten graben (»uns Peting is n gauden Kierl, blot mannicheins vegæt hei sick bannig«). Wer aber gräbt und gräbt in einem fort, hat keine Hand frei zum Zuschlagen.
    – Tag, Genosse.
    – Rot Front heit’t.
    – Rot Front, Genosse.
    – Bün din Genosse nich.
    – Du bist doch Mitglied der S. P.
    – Waest.
    – Du stehst in der Kartei. Brauchst nur noch vereinigen.
    – Dor mœt ick mi beråden.
    – Ja, beraten wir uns doch.
    – Nee. Bring mi man Cresspahl.
    – Was für ein Ding?
    – Unsn Boergermeister.
    – Ist Bienmüller nicht genehm? Soll er zurückgezogen werden?
    – Cresspahl is dee, den’n hem wi wullt. Nu heft ji em. Bring em man. Fragn kannst inne Kommandantur.
    – Das werde ich tun müssen, Herr Wulff.
    – Orre gå tau din Slata, de weit dat ook!
    Der Redner des Abends mag von der Anspielung auf Slata erschüttert worden sein. Wie konnte ihm aufgehen, daß Wulff mit einem possessiven Singular einen Plural in die Grammatik zu setzen imstande war! Der Landrat hatte sich wohl etwas dringlich in der Kommandantur melden lassen, als Landrat, womöglich nicht höflich genug, als die Herren nicht empfangen wollten. Es wäre am Ende politisch klüger gewesen, die Auseinandersetzung auf der Ebene der Verwaltung zu führen, nach dem Wunsch der Genossen Wendennych, die da allerhand zweitrangige Beschwerden hatten wegen der Versorgung ihres Befehlsbereichs mit Lebensmitteln, Brennstoff, Baumaterial. Der Landrat, der Freund des Dreifachen J, er mochte sich im Ton vergriffen haben, als er ihnen ihre Fehler in der politischen Arbeit unter den Leuten Jerichows vorzuhalten im Begriffe war. Das rechtfertigte keineswegs, daß sie ihm die Pistole abnehmen ließen. Diesen Moment erinnerte er als Pantomime. Während er behindert war von dem jerichower Ratespiel, welcher nun der Zwillinge das politkommissarische und welcher das militärische Sagen hatte, drehte ihn eine Ordonnanz in traumhafter Regelmäßigkeit um die eigene Achse und wickelte ihn aus, aus dem Gürtel, dem Holster, der Bewaffnung. Sie gaben ihm den Armeebefehl über Waffenbesitz deutscher Zivilisten zu lesen, in deutscher Sprache, während er in einem fort beteuerte, daß er aber doch die russische Sprache beherrsche, vollkommen in Wort und Bild, auch Schrift! Sie ließen ihn auf den Ziegeleiweg führen, mit dem zuverlässigen Versprechen: Der Antrag auf Bestrafung werde der S. M. A. ohnehin in russischer Ausfertigung zugeleitet werden, wegen der Wahlen jedoch erst am Montag.
    Später war ihm, als habe er versucht, Unterkunft zu finden in einem Hause, das der Kommandantur schräg gegenüber stand, sonderbar allein, so daß es ihm vorkam wie weit entfernt von dieser Stadt. Er wollte nur drei Stunden Ruhe haben bis zum Beginn der Versammlung. Er konnte nicht gleich wieder unter Leute. Das wurde ihm verweigert, von einem Kinde, einem Mädchen, höchstens dreizehn Jahre alt, die antwortete ihm immerfort in zwei Sätzen, die sie mal verband mal trennte, in Niederdeutsch, auf Wunsch auch in der Hochsprache: Dat geit nich.
    – Wieso.
    – Drœben sünt de Russen.
    – Was hat das damit zu tun?
    – Das geht nicht. Drüben sind die Russen.
    Endlich gab er sie auf als blöd, schwachsinnig, Einbildung. So was kann Einer sich einbilden in Momenten, da das Gefühl hoch angespannt ist. Solche Illusionen gibt es.
    Gegen sechs Uhr war der Marktplatz dicht bestanden. Neben ihm auf dem Rathausbalkon stand Bürgermeister Bienmüller, gerahmt waren sie von den Zwillingen Wendennych. Die Versammlung begann um eine halbe Stunde später, weil diese Kommandanten bestanden hatten auf einem Verzeichnis seiner Stichworte,

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