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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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datiert und unter Zeugen unterschrieben. Wie kann Einer unter solchen Umständen eine Rede halten! Mutlos fing er an mit der Ernte, der Industrialisierung, er war noch weit von dem gewohnten Schwung, dem Anschwellen der Brust von innen, als er gemahnte an den Bolschewisten Leonid Borissovič Krassin, den Fachmann für Sprengstoff und Banküberfälle zur Zarenzeit, den Vertreter des jungen Sowjetrußland in London und Paris, der noch nach seinem Tode als Eisbrecher im Jahre 1929 eine deutsche Eisenbahnfähre vor Warnemünde aus dem Eis befreit hatte. Dann setzte er die beiden Waffen ein, mit denen die Partei ihn beschenkt hatte, damit solch beschämendes Ergebnis wie das vom September sich nicht wiederhole. Der Markt war ziemlich still, als er die Stelle aus dem Wahlaufruf vom 7. Oktober wiederholte: Unsere Partei setzt sich ein für den Schutz des rechtmäßig und durch eigene Arbeit erworbenen Eigentums.
    Dann kam die Masche, die erfahrungsgemäß Beifall aus den Kehlen holte, auf die er den Satz vorzeitig nach Melodie, Pause und Lautstärke einstellte, die Worte direkt aus Berlin, vom Munde der Partei, der mannhafte Widerstand gegen den sowjetischen Außenminister und dessen Anerkennung der Oder/Neiße-Grenze: Aber unser Standpunkt muß von deutschen Interessen bestimmt sein. Russische Außenpolitik macht Molotov.
    – Mehr: rief der Redner des Abends: brauchen wir wohl nicht zu sagen! Unsere Partei! macht – Deutsche Politik!
    Dann mußte einer der Zwillinge ihn am Arm nehmen. Es war ihm entgangen, daß unter ihm einige Leute auf dem Markt weinten. Es ist auch jemand hingefallen.
    Den Abschluß der Kundgebung lieferte Alfred Bienmüller, als Bürgermeister und örtlicher Vorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei. Der Gastredner vom Kreis verstand nicht alles, da seine Benommenheit nicht nachlassen wollte; auch rutschte Bienmüller mit seiner Art von hochdeutscher Grammatik leicht in die Töne des Platt.
    – Ausgelacht habt ihr mich: sagte Bienmüller. – Wie habn euch gesacht, daß eine humåne Großmacht wie die Sowjetunion nich Leute ins Unglück bringt, bloß wegen Gelände Gewinnen, nich? Ich mein, wo doch sogar der Schwede nich … jawohl, Herr Duvenspeck! Ausgelacht habt ihr uns. Nich geglaubt habt ihr uns. Nun habt ihr das ja gehört, ihr Quatschköppe. Ihr wißt auch, von wem ihr das gehört habt! Nu soll das nich bloß eine Freude sein für unsre Flüchtlinge, daß sie wieder nach Haus dürfen, da wollen wir ihnen beim Freuen mal helfen. Wenn wir ihnen schon bei was annerm nich geholfen haben. Holl doch din Muul du! Unt denn noch eins. Es sünt hier Gerüchte. Wir wissen auch, wer die in die Welt setzt, und die Alimente sollen wir zahlen. Das is nich wahr. Es heißt da, wo in einer Stadt zu wenig S. E. D. gewählt wird, kriegen die Leute weniger auf die Karten, weniger Kohlen und von allem, was nich da ist. So wahr ich das hier auf diesem Zettel zu stehen habe, so wahr ich jetzt diesn Zeddl vor eure Augen in Stücken reiß, so wahr is das nich wahr! Dafür wolln wir nich gewählt wern! Kuckt uns man an, un denn wählt! Ditt hev ick nich secht vonne Paatei, ditt sech ick as Boegemeiste. Ruhich! Hie hat kein ein … Die Versammlung ist aufgehoben.
    So verlor der Landrat von Gneez seine Wahl. In ganz Mecklenburg bekam seine Partei 125 583 Stimmen weniger als bei der Probe vom September. Er hätte es gern auf die Schlußrede Bienmüllers geschoben, aber er mußte sich das aus wissenschaftlichen Gründen verbieten. Denn, siehe da, in der Stadt Jerichow hatte seine Partei soviel Prozent der Stimmen wie sonst nur noch in zwei, drei anderen mecklenburgischen Gemeinden: über siebzig vom Hundert.
    Den Revolver bekam er nicht zurück. Immerhin war das ein Verlust, an dem kann ein Gefühl sich festhalten. Nur, das richtige war es immer noch nicht. Wovor denn hatte er sich gefürchtet?
    Heutzutage, wenn ein Führer der K. P. Č. einen anonymen Brief unter seiner Post findet, in dem er als Jude beschimpft wird und bedroht mit gezählten Tagen, was tut da die Zeitung seiner Partei, das Rote Recht? Sie druckt den Brief vollständig ab, und ebenso offen darf er ihn beantworten. Was darf er antworten? Daß solche anonymen Briefschreiber sich zu erkennen geben durch den Ton von 1952. Was war denn 1952? Da wurde Rudolf Slánský im Namen des Volkes hingerichtet. Das hatten wir in der Schule.
    25. Juni, 1968 Dienstag
    Die Delegation der tschechoslowakischen Nationalversammlung hat es der Sowjetunion

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