Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
habe versucht, ihm zu erklären, dass diese Schmerzen ein Signal seines Körpers sind, nicht zu schnell voranzugehen, auszuruhen, nichts zu forcieren. Es geht ihm immer noch nicht sehr gut. Zwar sind die Blutproben alle ohne Rückstände, aber er ist noch vergiftet, in kaum nachweisbarer Form. Von den schlimmen Erlebnissen mal ganz abgesehen.«
»Woran denken Sie gerade?«, fragte Jamey.
»Ich glaube, dieser Zustand ist für deine Situation normal und geht vorüber.«
»Gut«, sagte er sichtlich erleichtert. »Ich lege Wert auf Ihre Meinung.«
Ein roter Fleck bewegte sich in weitem Abstand um uns herum. Susan hatte ihre Bank verlassen und blieb nun erwartungsvoll stehen.
»Dr. D.«, sagte Jamey, »was wird aus mir? Ich meine später, wenn ich wieder in Ordnung bin.«
Ich dachte eine Weile nach, bevor ich antwortete, lange genug, um meine Worte richtig zu wählen, nicht zu lange, um ihn nicht zu erschrecken.
»Ich glaube, dieses Problem kommt dir im Moment unlösbar vor, aber wenn die Zeit deiner Entlassung kommt, wirst du sehen, dass es doch lösbar ist. Vielleicht geschieht dies sogar ganz von selbst.«
Er sah mich zweifelnd an.
»Denk an eine Aufgabe der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, sagte ich. »In der Mitte ist alles offen, es ist einfach unverständlich. Aber fängst du vorne an und gehst Schritt für Schritt weiter und erreichst die Stelle in der Mitte, dann füllt sie sich wie von allein.«
»Glauben Sie, es ist eine Sache, die sich ganz allmählich entwickelt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weit entfernt davon. Es wird immer wieder neue Anforderungen geben, Zeiten, in denen du auf der Stelle trittst und glaubst, du kommst nicht mehr weiter. Aber wenn du ein vernünftiges Tempo anschlägst, dich nicht überforderst, dir helfen lässt, selbst mit dir gut umgehst, wirst du damit fertig werden. Du wirst überrascht sein, wie gut du es schaffst.«
Er hörte mir zu, schien jedoch misstrauisch. Wie jemand, der ein Eis möchte und Sellerie bekommt.
»Weißt du meine Nummer noch?«, fragte ich.
Er sagte sieben Ziffern auf, sah mich aber gleich darauf erstaunt an.
»Ruf mich an, wenn du mit mir sprechen möchtest«, sagte ich. »Dr. Levi ist damit einverstanden. Wenn du hier oben fertig bist, treffen wir uns und machen ein paar Pläne, ja?«
»Das wäre … ja, das würde mir gefallen, ich freue mich darauf.«
Susan war langsam auf uns zugekommen. Er sah sie und stand auf. Er streckte mir seine Hand entgegen.
»Es war schön, Sie wiederzusehen«, sagte er dann.
Ich schüttelte ihm die Hand, ließ sie los und nahm ihn in die Arme. Ich hörte, wie er schnell und heftig einatmete, hörte das unterdrückte Schluchzen eines Kindes, das einen geliebten Menschen wiederfindet.
»Danke, Dr. D.«, flüsterte er.
Buch
Mitten in der Nacht wird Alex Delaware von einem Anrufer aufgeschreckt. Es ist der siebzehnjährige Jamey Cadmus, der von Wahnvorstellungen heimgesucht wird. In derselben Nacht wird die Polizei zu einem grausigen Tatort gerufen: Dig Chancellor wurde erdrosselt, außerdem weist sein Körper verschiedene Messerstiche auf. Neben ihm liegt der tote Körper des sechzehnjährigen Strichers Richard Ford, genannt »Rostnagel«. Und zwischen den beiden Leichen sitzt Jamey, in der Hand ein Messer. Der Fall scheint klar: Jamey ist der »Lavendelmörder«. Nur Delaware glaubt trotz der belastenden Indizien nicht an Jameys Schuld und versucht, das Geheimnis des Jungen zu ergründen. Zusammen mit seinem Freund Milo Sturgis, Detective bei der Mordkommission, kommt Delaware so einem Skandal auf die Spur, von dem eine ganze Region bedroht ist und der Delaware selbst in große Gefahr bringt …
Autor
Jonathan Kellerman ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten amerikanischen Kriminalautoren. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Kinderpsychologe. Für seine einfühlsamen Romane ist er unter anderem mit dem »Edgar-Award«, Amerikas bedeutendstem Krimi-Preis, ausgezeichnet worden.
Von Jonathan Kellerman außerdem bei Goldmann lieferbar:
Der Pathologe. Roman (45810), Der Tote im Griffith Park. Roman (45123)
Die Alex-Delaware-Romane:
Satans Bruder. Roman (45460), Monster. Roman (44818), Gnadentod. Roman (45087), Fleisch und Blut. Roman (45370), Blutnacht. Roman (45727), Das Buch der Toten. Roman (45817)
Zusammen mit Faye Kellerman:
Denn dein ist die Macht/Nackte Gewalt. Zwei Romane in einem Band (45969)
Impressum
Titel der Originalausgabe:
»Over the Edge«
Verlagsgruppe Random House
1.
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