Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Haare, die er aus seiner breiten, schweren Stirn zurückbürstete. Auf der Spitze seiner dicken Nase hing ständig eine Lesebrille mit Drahtgestell. Fabel hatte immer das Gefühl, dass Goetz die Brille bewusst einsetzte, um nicht ganz so sehr wie ein Bauarbeiter auszusehen. Aber Heiner Goetz arbeitete nicht auf dem Bau, sondern war Generalstaatsanwalt von Hamburg.
Er starrte aus dem Fenster seines Büros am Georg-Fock-Wall, während Fabel, zum dritten Mal an jenem Tag, seinen Verdacht gegenüber dem Pharos-Projekt und dessen Beteiligung am Verschwinden und an der wahrscheinlichen Ermordung von Meliha Kebir sowie an den Morden an Berthold Müller-Voigt, Daniel Föttinger und Harald Jaburg erläuterte.
Fabel tat sein Bestes, aber er wusste, dass er seine Behauptungen nicht auf überzeugende Beweise stützen konnte. Seine Hoffnung war gering, einen Vollziehungsbefehl zu erhalten. Er blickte auf seine Armbanduhr: Die Unterredung dauerte bereits den größten Teil des Morgens, und Fabel drängte es, ins Präsidium zurückzukehren. Nach seinem Gespräch mit Menke am Vortag hatte er eine große Fahndung nach Niels Freese eingeleitet.
Goetz wandte sich nicht vom Fenster ab, als Fabel seinen Vortrag beendet hatte, und gab nicht zu erkennen, ob er die Worte des Hauptkommissars überhaupt gehört hatte. Fabel blieb geduldig. Er hatte bei zahllosen Gelegenheiten mit Goetz zu tun gehabt und wusste, dass der Generalstaatsanwalt sich immer genug Zeit nahm, die Situation zu durchdenken. Vielleicht machte es ihm auch Spaß, Polizeibeamte, die darauf drängten, einen Verdächtigen dingfest zu machen, ins Schwitzen zu bringen.
»All die Morde sind also angeordnet worden, um ein Geheimnis zu schützen?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Aber Sie haben kein Beweismaterial?«
»Nein, Herr Goetz. Deswegen brauchen wir die richterlichen Befehle, um die Computer beschlagnahmen und Vernehmungen erzwingen zu können. Nur so können wir der Sache auf den Grund gehen.«
»Herr Fabel, Sie sind lange genug Polizist, um zu wissen, dass Sie und ich uns bald einen anderen Posten suchen könnten, wenn ich auf der Basis reiner Vermutungen Vollzugsbefehle ausstellen würde und Sie dann kein Belastungsmaterial fänden. Überwachungsbefehle zum Abhören von Telefonaten, Abfangen von E-Mails und Ähnlichem zwecks Sammeln von Beweismaterial könnte ich eher vertreten.«
»Herr Goetz, verstehen Sie denn nicht …«, Fabel versuchte, die Frustration in seiner Stimme zu unterdrücken, »… dass solche Maßnahmen nutzlos gegen Gegner sind, die über eine unvergleichlich bessere technische Ausstattung verfügen als wir. Es gibt keine Form der elektronischen Überwachung, die sie nicht sofort entdecken und ausschalten oder umgehen könnten.«
Ein neues Schweigen, während Goetz weiterhin aus dem Fenster schaute.
»Diese ganze Internetgeschichte«, sagte er schließlich, »eröffnet ein ganz neues Feld für die Kriminalität, und wir haben weder die Gesetze noch auch nur die Grundkenntnisse, um sie zu bekämpfen. Vor ungefähr sechs Monaten ist mir von einer Jugendschutzbehörde ein Fall vorgelegt worden: Ein Mädchen – fünfzehn Jahre alt, wenn ich mich nicht irre – warf sich vor eine S-Bahn. Sie war das Opfer von sogenanntem Cyber-Mobbing, dem sie sich nicht entziehen konnte. Es war unerbittlich – ein bösartiges, widerliches Zeug, das dauernd an ihren Computer und ihr Handy geschickt wurde … Eine Kampagne, die eindeutig die Psyche eines Menschen zerstören sollte, und sie wurde durch die Technologie ermöglicht, die unser Leben verbessern soll. Das Mädchen glaubte, dem nicht entkommen zu können, und warf sich vor einen Zug. Fünfzehn Jahre alt. Ein Leben beendet, bevor es wirklich begonnen hatte. Ich wollte die Mädchen belangen, die sie dazu getrieben hatten, aber dazu fehlen die Gesetze und das erforderliche Wissen. Das arme Kind …«
Plötzlich wandte er sich vom Fenster ab und stützte sich, die schweren Schultern gebeugt, auf seinen Schreibtisch.
»Wir haben vier Tote, und nach Ihren Worten sind diese Leute arrogant genug zu glauben, dass sie jeden ermorden können, der ihnen im Weg ist, sogar einen Hamburger Senator und einen leitenden Polizeibeamten. Wenn mich etwas auf die Palme bringt, dann Personen, die glauben, außer Reichweite des Gesetzes zu sein.« Er schlug mit den Handflächen auf die Tischplatte. »Ich werde Ihre Befehle genehmigen. Durchsuchung, Beschlagnahme und Verhaftung. Ich werde versuchen, sie bis heute
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