Jan Fabel 06 - Tiefenangst
war ihre Aufgabe, andere ungesehen zu beschatten; die Verfolgten zu finden und ihre eigene Anwesenheit erst im letzten Moment preiszugeben. Und natürlich verfügten sie über eine Technologie, die man normalerweise nur beim Nachrichtendienst einer Supermacht vermuten würde. Vielleicht beobachteten sie Meliha nun in der Dunkelheit. Vielleicht war sie ein helles Infrarotlicht in der kalten Finsternis der Speicherstadt.
So nahe. Meliha lief weiter. Ihre Füße schmerzten von Schritt zu Schritt mehr. Sie hatte etliche Kilometer zurückgelegt. Ohne Taxi. Ohne öffentliche Verkehrsmittel. Ohne alles, was sich über ein Computersystem oder ein Funknetz oder eine andere Technologie kontrollieren ließ, hatte sie die Stadt durchquert. Sogar die wenigen von Videokameras überwachten Bereiche, die auf ihrer Karte mit Rotstift markiert waren, hatte sie durch weitläufige Umwege gemieden.
Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte das gesuchte Lagerhaus erreicht. Die Schilder trugen türkische, englische und deutsche Aufschriften. Kein Zweifel. Es gab kein mit einem Alarm verbundenes elektronisches Türschloss, nur ein altmodisches Messingschlüsselloch in einer stabilen, traditionellen deutschen Lagerhaustür aus festem, mit Messingblech verstärktem Holz. Beruhigend einfach: eine Tür, die den Inhalt des Lagerhauses seit mehr als hundert Jahren schützte. Meliha nahm den schweren Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete die Tür. Sie schlüpfte in die Dunkelheit des Gebäudes, nachdem sie einen letzten Blick in die Kanalgasse geworfen hatte.
Vielleicht würde sie hier in Sicherheit sein. Meliha griff nach einer aufladbaren LED-Lampe in ihrer Handtasche und sah sich um. Sie befand sich in einer Eingangshalle, und eine Tafel mit den Namen der Mieter zeigte an, dass sich die Firma, nach der sie suchte – Demeril Importing –, in der dritten Etage befand.
Sie stieß die Glastür auf und gelangte in den Hauptbereich des Speichers. An einer Seite war ein großer Lastenaufzug, doch Meliha beschloss, lieber die Treppe zu benutzen, um so wenig Lärm wie möglich zu machen. Bei Demeril Importing angekommen, holte sie einen zweiten Schlüssel aus der Tasche und öffnete die kunstvolle Jugendstiltür. Sie schwenkte die Taschenlampe und ließ den Strahl über hoch aufgestapelte Läufer und Teppiche gleiten, darunter zahlreiche Kelims. An den Falträndern waren reichhaltige türkische Muster zu sehen. Auf Etiketten standen Namen, die sie so gut kannte: Kayseri, Yeşilhisar, Kirsehir, Konya, Dazkırı … Aus irgendeinem Grund wurde sie durch die Vertrautheit der Namen getröstet.
Neben der Tür standen ein robuster, verschnörkelter Holzschreibtisch und ein mit einem Kelim bedeckter Stuhl. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere und Hauptbücher. Auf zwei Spießen steckten Rechnungen und Auftragsformulare. Hier wurden Geschäfte wie in den vergangenen Jahrhunderten gemacht. Ohne Computer. Ohne Websites. Ohne Elektronik.
Meliha ging suchend weiter, bis sie am Ende der Hauptspeicherfläche eine Nische fand, in der weniger sorgfältig gestapelte Teppiche lagen. Sie wählte einen relativ niedrigen Stoß im hintersten Winkel der Nische aus, ließ sich darauf nieder und schaltete ihre Taschenlampe aus. Nun konnte sie sich ausruhen, durfte jedoch nicht schlafen. Das wäre gefährlich. Bis zum Morgen würde sie hier in Sicherheit sein. Dann … dann würde sie versuchen, mit Berthold Kontakt aufzunehmen. Wie sie das ohne Telefon oder ein anderes elektronisches Hilfsmittel bewerkstelligen konnte, hatte sie sich noch nicht überlegt. Aber sie musste Berthold erreichen und ihm mitteilen, was sie wusste. Bis dahin durfte sie sich ausruhen, doch nicht schlafen.
Sie schlief ein.
Es war vermutlich ein sehr leises Geräusch gewesen. Vielleicht war es vom Haupteingang, drei Etagen unter ihr, heraufgedrungen: ein undeutlicher, dumpfer Laut, der ihr schlafendes Gehirn wie eine Kugel getroffen hatte. Wie auch immer, nach ihrer Schlafpause war sie nun nervenzermürbend wach. Einen Sekundenbruchteil lang fragte sie sich, ob sie die Nacht durchgeschlafen und die Ankunft des Lagerhauspersonals überhört hatte. Aber es war draußen noch dunkel. Meliha hob nur den Kopf und blieb still auf dem Teppichstapel liegen. Sie hielt die Luft an und lauschte angespannt nach weiteren Geräuschen. Ein paar Sekunden der Stille vergingen durch das ihren Körper überflutende Adrenalin unerträglich langsam. Dann ließ ein weiteres Geräusch sie
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