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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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konzentrierte sich erneut darauf, ihre Furcht zu vertreiben.
    »Benim küçük cesur kaplan ı m …« Sie erinnerte sich an die Stimme ihres Vaters. An den sanften Tonfall seiner Worte und seinen Stolz. »Benim küçük cesur kaplan ı m …«
    Meliha wartete eine weitere Stunde. Außerhalb des Lagerhauses wurde es fast unmerklich heller. Ein Hauch von Morgen.
    Sie hatte nichts mehr gehört. Ihre Verfolger waren gescheitert. Oder vielleicht hatten sie nicht gewusst, sondern bloß vermutet, dass sie sich in diesem Gebäude aufhielt. Es gab weitere Orte, von denen sie möglicherweise wussten und die sie nun vielleicht absuchten.
    Meliha beschloss, an keinen ihrer früheren Aufenthaltsorte mehr zurückzukehren. Aber sie musste in Bewegung bleiben. Das Versagen ihrer Verfolger bot ihr die Gelegenheit, den Vorsprung zu vergrößern. Sie konnte die Stadt und auch das Land verlassen, wenn sie sofort handelte.
    Meliha hob die Stoffrolle so sachte wie möglich und ohne jedes Geräusch an. Nachdem sie hinter den Musterbüchern hervorgekrochen war, musterte sie den sichtbaren Teil des Lagerraums und trat vorsichtig aus dem Schrank und dann aus der Nische heraus.
    Vier von ihnen warteten auf sie. Sie standen reglos in der Mitte des Lagerhauses. Vier dunkle Silhouetten. Schatten. Geschlechtslos, alterslos. Sie hoben sich von dem milchigen Glühen des breiten Fensters ab. Zwei von ihnen hatten etwas Unförmiges vor den Augen. Nachtsichtbrillen. Keiner rührte sich, als Meliha erschien; keine Spur einer Reaktion. Sie hatten seit zwei Stunden hier gestanden und darauf gewartet, dass Meliha aus ihrem Versteck kam. Auf diese Weise war es effektiver, ruhiger.
    Sie waren das, was Meliha vermutet hatte. Was sie am meisten fürchtete.
    Konsolidierer.
    Der Verfolger, der Meliha am nächsten stand, hob jetzt langsam den dunklen Arm, als zeige er auf sie. Ein Knall, und sie spürte einen scharfen Schmerz in der Brust.
    Während sie auf denselben Teppichstapel zurücksank, auf dem sie zuvor geschlafen hatte, glaubte sie, die Stimme ihres Vaters zu hören.
    »Benim küçük cesur kaplan ı m …«

3. Die Nacht des Sturmes
     
    Kein Sturm wütete. Man sah nur ein weites, offenes, dunkles Meer. Kein Land, keine Schiffe. Niemand konnte die nächtliche Geburt des Sturmes miterleben. Aber es gab eine Syzygie: eine ekliptikale Gleichstellung von Sonne, Mond und Erde, wobei der Mond der Erde am nächsten war und das sehnsüchtige Meer den Rücken unter der Anziehungskraft des Mondes wölbte.
    Über dem Meer war die Luft kühl. Trocken. Und weiter oben verharrte eine gewaltige Masse noch kälterer Luft, die irgendwo im Norden und im Osten entstanden und über den Baltischen Schild nach Südwesten gedriftet war. Gleichzeitig hatte sie sich höher in die Troposphäre erhoben. Ihre sibirische Kälte hatte sich noch verstärkt. Und nun, äußerst kalt und äußerst hoch, schob sie sich still und verachtungsvoll über den Atlantik.
    Aber sie würde nicht weiterziehen können.
    Etwas bewegte sich dicht über den gewölbten Rücken des Meeres hinweg; etwas, das genauso enorm war wie die Kälte hoch oben. Diese Luftmasse, in den Tropen entstanden, trug Wärme und Feuchtigkeit in sich. Und genau wie ihr Gegenstück kälter als im Durchschnitt war, wies sie ganze drei Wärmegrade mehr auf als die übliche Drift.
    Warme Luft steigt auf, kalte Luft sinkt hinab – eine schlichte Tatsache der Physik, der Meteorologie. Der Sturm wurde geboren. Er sog die warme, feuchte Luft in einem heftigen mesozyklonalen Wirbel nach oben, wodurch die nun zerrissene Luft Geschwindigkeiten von 180 Stundenkilometer erreichte. Eine Wasserhose bildete sich und verband das Meer mit dem Himmel. Der sich kondensierende Wasserdampf aus der warmen Luft knisterte vor Elektrizität. Wolken schwollen kochend und tobend an.
    Über dem Atlantik bildete sich eine mächtige Superzellen-Sturmwolke, einem gigantischen Amboss gleich, und die Nacht wurde noch dunkler. Mit Millionen Tonnen Wasser gefüllt, drehte sie sich langsam und böswillig und wälzte sich auf das Land zu.

4.
     
    Kreysig erkannte das Flattern in seiner Brust schuldbewusst als Adrenalinstoß. Eine Katastrophe war passiert. Gebäude waren beschädigt und Menschen verletzt worden; einige hatten vielleicht sogar ihr Leben verloren. Kreysigs Heimatstadt hatte einen wütenden, unbarmherzigen, gnadenlosen Angriff erlebt. Doch Kreysig, umgeben von Tumult und Lärm, war erregt. Er fühlte sich in seinem Element.
    Die Nacht war

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