Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
›furchtbaren und plötzlichen Tode der Marta G.‹ handelt, einem unartigen Kinde, welches der Falschheit und Lüge ergeben war.«
Mit diesen Worten legte Mr. Brocklehurst ein Pamphlet in meine Hand, welches sorgsam in einen Umschlag genäht war. Dann ließ er seinen Wagen vorfahren und verschwand.
Mrs. Reed und ich blieben allein; mehre Minuten verharrten wir im Schweigen; sie nähte, ich beobachtete sie. Mrs. Reed mochte zu jener Zeit ungefähr sechs- oder siebenunddreißig Jahre alt sein, sie war eine Frau von robuster Gestalt, breiten Schultern und starken Knochen, nicht schlank, aber auch nicht dick. Sie hatte ein ziemlich großes Gesicht mit einem stark entwickelten, hervortretenden Unterkiefer. Ihre Stirn war niedrig, das Kinn breit, Mund und Nase waren ziemlich regelmäßig. Unter ihren farblosen Brauen blitzten Augen, die wenig Herzensgüte verrieten; ihre Haut war dunkel und matt, das Haar flachsblond. Sie war von fester und gesunder Konstitution – niemals nahte sich ihr eine Krankheit. Sie war eine strenge, pünktliche Hausfrau, der Haushalt und die Dienerschaft standen vollständig unter ihrer Kontrolle – nur ihre Kinder trotzten zuweilen ihrer Autorität und verlachten sie höhnisch. Sie verstand es, ihre stets sorgfältig Kleidung zur Geltung zu bringen.
Ich saß wenige Schritte von ihrem Lehnstuhl entfernt auf einem niedrigen Schemel und ließ meine Blicke prüfend auf ihren Gesichtszügen ruhen. In der Hand hielt ich das Traktat, welches von dem plötzlichen Tod der Lügnerin handelte und das – als passende Warnung für mich – meiner besonderenAufmerksamkeit anempfohlen worden war. Noch schmerzte mir die Seele von dem, was soeben geschehen war, was Mrs. Reed in Bezug auf mich zu Mr. Brocklehurst gesagt hatte. Ich hatte jedes Wort ebenso klar empfunden, wie ich es gehört hatte, und das leidenschaftlichste Rachegefühl begann sich in mir zu regen.
Mrs. Reed blickte von ihrer Arbeit auf; ihre Augen bohrten sich in die meinen und ihre Finger hielten in ihrer geschäftigen Bewegung inne.
»Verlass das Zimmer! Geh wieder ins Kinderzimmer zurück!«, befahl sie. In meinem Blick musste sie etwas Herausforderndes entdeckt haben, denn sie sprach mit nur mühsam unterdrücktem Zorn. Ich stand auf und ging an die Tür. Dann kam ich aber wieder zurück und ging ans Fenster, schließlich jedoch quer durch das Zimmer bis dicht an ihren Lehnstuhl.
Ich musste sprechen, man hatte mich zu schmerzhaft verletzt, ich musste mich auflehnen. Doch wie? Welche Mittel hatte ich denn, um meine Gegnerin wirksam zu treffen? Ich nahm meinen ganzen Mut, meine ganze Energie zusammen und schleuderte ihr folgende Worte ins Gesicht:
»Ich bin nicht falsch, nicht lügnerisch, wäre ich es, so würde ich sagen, dass ich Sie liebte. Aber ich erkläre Ihnen, dass ich Sie nicht liebe, ich hasse Sie mehr als irgendjemanden auf der ganzen Welt, John Reed ausgenommen, und dieses Buch hier mit der Geschichte einer Lügnerin, das können Sie Ihrer Tochter Georgiana geben, denn sie ist es, die beständig lügt, nicht ich!«
Mrs. Reeds Hände ruhten untätig auf ihrer Arbeit, ihre eisigen Augen waren wie erstarrt.
»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«, fragte sie mich in einem Ton, den man wohl Erwachsenen gegenüber, niemals aber im Gespräch mit einem Kind anzuschlagen pflegt.
Ihre Augen und ihre Stimme wühlten all den Hass, der in mir lebte, auf. Von Kopf bis Fuß bebend, von einer Erregunggeschüttelt, der ich nicht mehr Herr werden konnte, fuhr ich fort:
»Ich bin glücklich, dass Sie nicht meine Blutsverwandte sind. Niemals, solange ich lebe, werde ich Sie wieder Tante nennen. Niemals, selbst wenn ich erwachsen bin, werde ich kommen, um Sie zu besuchen, und wenn irgendjemand mich fragen sollte, ob ich Sie liebe und wie Sie mich behandelt haben, so werde ich antworten, dass der Gedanke an Sie allein schon genügt, um mich todkrank zu machen, und dass Sie mich mit elender Grausamkeit behandelt haben!«
»Wie kannst du es wagen, Jane Eyre, so etwas zu behaupten?«
»Wie ich es wagen kann, Mrs. Reed? Wie
ich
es wagen kann? Weil es die Wahrheit ist! Sie glauben, dass ich kein Gefühl habe, dass ich ohne die geringste Liebe und Güte leben kann, aber so kann ich nicht leben. Sie kennen kein Mitleid, kein Erbarmen. Ich werde niemals vergessen, wie Sie mich heftig und roh in das Rote Zimmer zurückgestoßen und mich dann eingeschlossen haben – bis zu meiner Sterbestunde werde ich es nicht vergessen. Obgleich ich Todesangst
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