Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
knickte die senkrechte Säule in der Mitte ein und ließ sich im Lehnstuhl gegenüber von Mrs. Reed nieder. »Kommen Sie hierher«, sagte er.
Ich ging über den Kaminteppich zu ihm hinüber, und er rückte mich gerade und aufrecht vor sich zurecht. Was hatte er doch für ein Gesicht, jetzt, wo ich mich ihm gegenüber auf gleicher Höhe befand! Welch eine ungeheure Nase und welch ein Mund! Welche großen, hervorstehenden Zähne!
»Es gibt keinen schrecklicheren Anblick auf der Welt, als den eines unartigen Kindes«, begann er, »besonders eines unartigen kleinen Mädchens! Wissen Sie denn, wohin die Gottlosen kommen, wenn sie gestorben sind?«
»Sie kommen in die Hölle«, lautete meine schnelle und orthodoxe Antwort.
»Und was ist die Hölle? Können Sie mir das ebenfalls sagen?«
»Eine Grube voll Feuer.«
»Und möchten Sie wohl in diese Grube hineinfallen und dort für ewig brennen?«
»Nein, Sir.«
»Was müssen Sie denn tun, um das zu vermeiden?«
Einen Augenblick überlegte ich meine Antwort, aber als sie kam, war gewiss viel gegen sie einzuwenden: »Ich muss gesund bleiben und nicht sterben.«
»Wie können Sie denn gesund bleiben? Täglich sterben Kinder, die jünger sind als Sie. Erst vor zwei oder drei Tagen habe ich ein kleines Kind von fünf Jahren begraben – ein gutes Kind, dessen Seele jetzt im Himmel ist. Es steht zu befürchten,dass man dasselbe nicht von Ihnen sagen könnte, wenn Sie aus diesem Leben abberufen würden.«
Da ich nicht in der Lage war, seine Zweifel zu zerstreuen, schlug ich nur die Augen nieder und ließ sie auf seinen ungeheuerlichen Füßen ruhen, die sich in den Kaminteppich eingegraben hatten. Dann seufzte ich tief auf. Ich wünschte mich weit, weit fort.
»Ich hoffe, dass dieser Seufzer aus der Tiefe Ihres Herzens kommt und dass Sie bedauern, die Quelle so vieler Unannehmlichkeiten für Ihre ausgezeichnete Wohltäterin gewesen zu sein.«
›Wohltäterin, Wohltäterin!‹, wiederholte ich innerlich. ›Jedermann nennt Mrs. Reed eine Wohltäterin! Wenn sie das wirklich war, so ist eine Wohltäterin eine sehr unangenehme Sache.‹
»Sprechen Sie abends und morgens Ihr Gebet?«, fuhr er mit dem Verhör fort.
»Ja, Sir.«
»Lesen Sie Ihre Bibel?«
»Zuweilen.«
»Mit Freude? Lieben Sie Ihre Bibel?«
»Ich liebe die Offenbarung, das Buch Daniel, die Genesis und Samuel – und ein wenig vom Buch der Prediger und einen Teil der Könige und der Chronik. Und Hiob und Ruth.«
»Und die Psalmen? Ich hoffe, Sie lieben diese auch?«
»Nein, Sir.«
»Nein? Oh, entsetzlich! Ich habe einen kleinen Knaben, viel jünger als Sie, der sechs Psalmen auswendig weiß. Und wenn Sie ihn fragen, ob er lieber eine Pfeffernuss essen oder einen Vers aus den Psalmen auswendig lernen möchte, so sagt er: ›Oh, den Vers aus den Psalmen! Die Engel singen Psalmen‹, sagt er, ›und ich möchte schon hier auf Erden ein kleiner Engel sein.‹ Und dann bekommt er zum Lohn für seine kindliche Frömmigkeit
zwei
Pfeffernüsse.«
»Psalmen interessieren mich nicht«, bemerkte ich.
»Das beweist, dass Sie ein bösartiges Herz haben. Sie müssen Gott bitten, dass er Ihnen ein besseres gibt, ein neues, ein reines; dass er Ihnen Ihr Herz von Stein nimmt und Ihnen ein Herz von Fleisch gibt.«
Ich war gerade im Begriff, ihn nach der Art und Weise zu fragen, in der die Operation, mir ein neues Herz einzusetzen, vor sich gehen solle, als Mrs. Reed mich unterbrach, indem sie mir gebot, mich zu setzen. Dann übernahm sie selbst das Gespräch:
»Mr. Brocklehurst, ich glaube, dass ich in dem Brief, welchen ich Ihnen vor ungefähr drei Wochen schrieb, schon angedeutet habe, dass dieses kleine Mädchen nicht ganz den Charakter und die Eigenschaften hat, welche mir wünschenswert erscheinen. Wenn Sie sie in die Schule von Lowood aufnehmen sollten, so würde ich Ihnen dankbar sein, wenn Sie die Vorsteherin und die Lehrer ersuchen wollten, ein scharfes Auge auf sie zu haben und vor allen Dingen ihrem schlimmsten Fehler, einem Hang zur Lüge und Verstellung, entgegenzuarbeiten. Ich erwähne diese Sache in deiner Gegenwart, Jane, damit du nicht versuchst, auch Mr. Brocklehurst zu täuschen.«
Wie sollte ich Mrs. Reed nicht fürchten und eine tiefe Abneigung gegen sie hegen, wo es doch in ihrer Natur lag, mich stets aufs Grausamste zu verletzen? Niemals fühlte ich mich glücklich in ihrer Gegenwart. Wie sorgsam ich mich auch bemühte, ihr zu gefallen, ihr aufs Wort zu gehorchen – meine Anstrengungen wurden
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